Die Feuer von Troia
die jungen Mädchen trockenes Holz sammeln. Nach dem tagelangen Regen fanden sie nur wenig, aber Kassandra entdeckte im dichten Gewirr verkrümmter Olivenbäume ein paar Zweige. Dorthin war das Wasser nicht gedrungen, und sie lief damit zurück zum Feuer.
Die aufgehende Sonne tauchte die Amazonen in flammendes Rot, als sie im Kreis zusammensaßen, und sie wußten, das verhieß noch mehr Regen. Also freuten sie sich über die feuchte Wärme und trockneten Haare und Kleider. Dann wurde unter der Aufsicht älterer Frauen begonnen, ein Zelt aufzuschlagen, und man trug eine Frau hinein, bei der die Wehen eingesetzt hatten. Die Kriegerinnen beauftragten die Mädchen, die Herden weiden zu lassen, und Kassandra ging mit ihnen.
Sie war sehr müde, und ihre Augen brannten. Aber ihr war nicht nach Schlafen zumute. Ein Teil ihrer Gedanken kehrten in das Zelt zurück, wo die Frauen sich versammelt hatten, um bei der Geburt zu helfen. Ein anderer Teil war noch weiter weg bei Paris. Sie wußte, er befand sich mit seinen Herden an den Berghängen, und ihn beschäftigte immer noch die junge Frau, die er nicht vergessen konnte. Kassandra wußte, daß die Frau Oenone hieß; sie kannte den süßen sinnlichen Klang dieses Namens, und sie war sich qualvoll bewußt, wie sehr Paris sich an die Erinnerung an diese Frau klammerte und darüber alles um ihn herum vergaß, obwohl seine Gedanken in erster Linie um seine Pflichten gegenüber der Herde hätten kreisen sollen. Und noch ehe Paris es ahnte, hörte Kassandra - oder fühlte oder roch -, wie die junge Frau durch das Wäldchen am Abhang zu ihm schlich.
Der bittere Wacholderduft umgab die beiden. Kassandra wußte nicht, wer den anderen zuerst sah: Paris oder die Frau - oder wer zuerst losrannte und den anderen leidenschaftlich in die Arme schloß. Die hungrigen brennenden Küsse warfen Kassandra beinahe in ihren eigenen Körper und in ihre Umgebung zurück; aber nun war sie bereit, und sie klammerte sich an ihr Bewußtsein seiner Gefühle und Empfindungen. Dann wußte sie nur noch, daß Oenone ausgestreckt im weichen Gras lag, während Paris über ihr kniete und an ihrem Kleid zerrte.
Kassandra begriff plötzlich, daß dies ein Augenblick war, den man nicht einmal mit einer Zwillingsschwester teile, und sie zog sich zurück. Sie saß auf ihrem Pferd, und Regentropfen trafen ihr Gesicht. Sie sehnte sich nach der Sonne in ihrer Heimat; sie sehnte sich nach Apollons Sonne. Zum ersten Mal, seit sie bei den Amazonen lebte, überlegte sie, wann sie wohl zurückkehren würde… lhr wurde übel; die Augen brannten, und ein Schwächegefühl überkam sie. Die Erinnerung an das, was sie miterlebt hatte, beantwortete einige der vielen Fragen, die sie beschäftigten. Aber sie wußte nicht, ob sie das eigenartige Erlebnis mit ihrem Bruder geteilt hatte oder mit Oenone; sie wußte nicht, ob sie der Liebende oder die Geliebte war. Kassandra war sich nicht ganz sicher, ob sie sich in ihrem Körper befand, oder ob sie immer noch mit ihrem Bruder und der jungen Frau im weichen Gras am Ida lag - die Körper verschlungen im Nachglühen ihres Verlangens. Ihr Bewußtsein wollte sich nicht mit den Grenzen ihres Körpers abfinden, sondern flog weit über sie hinaus, so daß sich ein Teil ihres Wesens im Kreis der Pferde und der anderen Mädchen befand und ein anderer Teil im Zelt, wo die Gebärende im Ring der Frauen kniete, die sie beobachteten, ihr Anweisungen gaben und ermutigende Worte zuriefen. Die Schmerzen schienen Kassandras unerfahrenen Körper zu zerreißen; Verwirrung erfaßte sie; das Blut wich aus ihren Wangen, und sie hörte ihren keuchenden Atem.
Kassandra drehte sich ruckartig herum und zerrte so heftig an den Zügeln, daß ihre Stute beinahe gestolpert wäre. Sie stieß dem Pferd die Fersen in die Flanken und jagte über die Ebene, als könne sie durch eine rein körperliche Anstrengung ihr Bewußtsein zurückholen. Vom Lager aus sah Penthesilea sie davonreiten; sie sprang sofort auf ihr Pferd und galoppierte hinter Kassandra her.
Kassandra umklammerte den Hals ihrer Stute, preßte sich auf ihren Rücken und versuchte verzweifelt, alles außerhalb ihres Körpers auszuschalten. Sie spürte, daß sie verfolgt wurde, und stieß dem Pferd die Fersen fester in die Flanken. Aber Sturmwind war schneller, und Penthesilea war bei weitem die bessere Reiterin. Allmählich verringerte sich der Abstand zwischen den beiden, und die Amazonenkönigin holte Kassandra schließlich ein. Voll Schrecken sah sie
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