Die Feuer von Troia
das gerötete Gesicht und die angstvoll geweiteten Augen des Mädchens.
Penthesilea streckte die Arme aus, zog Kassandra auf den Rücken ihrer Stute und hielt sie vor sich im Sattel fest. Kassandras Stirn glühte, als habe sie Fieber. Sie wehrte sich, beinahe im Delirium, aber Penthesilea hielt sie fest in den Armen.
»Ruhig, ruhig. Was fehlt dir, Augenstern? Deine Stirn glüht, als habe die Sonne sie verbrannt, und dabei ist es kein heißer Tag!« Penthesileas Stimme klang freundlich. Aber Kassandra glaubte, die ältere Frau wolle sie verspotten und versuchte mit aller Macht, sich zu befreien.
»Mir fehlt nichts - ich wollte nicht… «
»Ruhig, es ist ja gut, mein Kind. Niemand wird dir etwas tun. Niemand ist böse auf dich«, redete Penthesilea liebevoll auf sie ein. Und bald wehrte Kassandra sich nicht länger und lag unbeweglich in den Armen ihrer Tante.
»Erzähl mir, was geschehen ist.«
Kassandra sprudelte hervor: »Ich war - bei ihm. Mein Bruder. Und ein Mädchen. Ich konnte mich nicht verschließen … vor nichts … überall im Lager…«
»Die Göttin sei dir gnädig«, flüsterte Penthesilea. In Kassandras Alter hatte auch sie die Gabe (oder den Fluch) der Hellsicht besessen. An Erfahrungen teilzuhaben, auf die Körper oder Geist nicht vorbereitet waren, konnte jeden Menschen tatsächlich an den Rand des Wahnsinns führen, und es gelang nicht immer, sicher zurückzukommen. Kassandra lag halb besinnungslos in ihren Armen, und Penthesilea wußte nicht, was sie tun sollte.
Zunächst einmal mußte sie das Mädchen ins Lager zurückbringen; soweit von den anderen Frauen und den Pferden entfernt, konnte man in dieser Wildnis sehr wohl auf fremde, gesetzlose Männer treffen. Eine solche Begegnung konnte Kassandra in ihrem derzeitigen Zustand wirklich um den Verstand bringen. Penthesilea drehte sich um und griff nach den Zügeln von Kassandras Stute, damit sie ihr folgte. Sie drückte das Mädchen an ihre Brust, und als sie das Lager erreichten, hob sie Kassandra vom Pferd und trug sie in das Zelt, wo die junge Mutter inzwischen neben ihrem schlafenden Kind ruhte. Penthesilea legte Kassandra auf eine Decke und setzte sich neben sie. Sie legte ihr die feste Hand auf die Stirn und über die Augen und konzentrierte sich darauf, alles auszuschalten, was Kassandras Geist bedrängte. Kassandra hörte auf zu schluchzen und beruhigte sich allmählich. Wie ein kleines Kind drückte sie ihr Gesicht an Penthesileas Hand und schmiegte sich an sie.
Nach einer langen Zeit fragte die Amazonenkönigin: »Geht es dir jetzt besser?«
»Ja, aber… wird es wiederkommen?«
»Vermutlich. Es ist ein Geschenk der Göttin, und du mußt lernen, damit zu leben. Ich kann dir dabei wenig helfen, mein Kind. Vielleicht hat die Schlangenmutter dich gerufen, damit die Götter durch dich sprechen. Unter uns gibt es Priesterinnen und Seherinnen. Vielleicht kommt der Tag, an dem du in die Tiefe steigst und IHR gegenübertrittst …«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Kassandra. Dann erinnerte sie sich an Apollons Worte, mit denen er sie aufgefordert hatte, SEINE Priesterin zu werden. Sie erzählte es Penthesilea, und die Amazonenkönigin wirkte erleichtert.
»Stimmt das? Ich weiß nichts über deinen Sonnengott; es kommt mir seltsam vor, daß eine Frau zu einem Gott gehen sollte und nicht zur Erdmutter oder unserer Schlangenmutter. Sie wohnt in der Tiefe und herrscht über alle Bereiche im Leben der Frauen - über die Dunkelheit der Geburt und des Todes. Vielleicht hat auch Sie dich gerufen, und du hast IHRE Stimme nicht gehört. Ich weiß, daß es bei einer geborenen Priesterin manchmal so ist. Wenn die Priesterin IHREN Ruf nicht vernimmt, berührt die Göttin sie durch die Dunkelheit böser Träume, damit sie dadurch vielleicht lernt, auf IHRE Stimme zu hören.«
Kassandra war sich nicht sicher. Sie wußte so wenig von Penthesileas Schlangenmutter; doch sie erinnerte sich an die schönen Schlangen in Apollons Tempel und daran, wie sehr sie sich gesehnt hatte, sie zu streicheln. Vielleicht hatte auch diese Schlangenmutter sie gerufen, nicht nur der strahlende Sonnengott …
Kassandra hatte gehofft, ihre Tante, die soviel über die Göttin wußte, würde ihr sagen, was sie tun mußte, um sich von der ungewollten Hellsichtigkeit zu befreien. Nun begann sie zu begreifen, daß sie lernen mußte, sie zu kontrollieren; sie mußte einen Weg finden, die Tore zu schließen, ehe die Visionen sie überwältigten.
»lch werde es versuchen«,
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