Die Feuer von Troia
jede Jungfrau stand und alle Bogenschützen und Kriegerinnen; die dunkle Mutter des Erdinnern, die Schlangenmutter der Unterwelt…
Aber ich , so dachte Kassandra verwirrt, als ihre Gedanken beim Einschlafen verschwammen, bin von Apollons Pfeilen getroffen … Wie so oft vor dem Einschlafen wanderte ihr Geist und suchte nach der vertrauten Berührung der Gedanken ihres Zwillingsbruders. Sie spürte einen leichten Windhauch; er kam von zu Hause. Die thymianduftende Luft des Ida wehte durch ihre Sinne; die Dunkelheit der Hirtenhütte, in der sie nie körperlich gewesen war, umgab sie; sie fragte sich, was er von der Schlacht gehalten hätte. Wäre sie ihm als etwas Alltägliches erschienen? Nein, denn jetzt besaß sie, eine Frau, mehr Erfahrung im Kampf als er. An seiner Seite sah - oder spürte - sie den dunklen Schatten einer schlafenden Gestalt, in der sie Oenone erkannte, um die ihre - seine - Vorstellungen so lange gekreist hatten. In den letzten Monaten hatte Kassandra sich so sehr an die merkwürdige Spaltung ihres Bewußtseins gewöhnt, die sie in den Zwillingsbruder versetzte, daß sie nicht mehr sicher war, welche Gefühle und Empfindungen die eigenen und welche die von Paris waren. Schlief sie und träumte? Schlief er?
Das Mondlicht fiel auf die sanft leuchtende Gestalt einer Frau, die in der dunklen Tür der Hütte stand, und Kassandra wußte, sie sah die Göttin: eine Königin - majestätisch und strahlend. Die Strahlende bewegte sich. Das Licht entströmte dem silbernen Bogen. Die Pfeile des Mondlichts erfüllten den kleinen Raum.
Das Mondlicht schien wahrhaftig durch ihren Körper - oder seinen? - hindurchzudringen, schien durch ihre Adern zu rinnen, sie zu umgeben wie ein Netz und sie hin zu der Gestalt in der Tür zu ziehen. Es kam ihr vor, als stehe sie jetzt vor der Göttin. Hinter ihrer linken Schulter erklang eine Stimme.
»Paris, du hast dich als ein gerechter und ehrlicher Richter erwiesen.« Kassandra sah flüchtig den Stier, dem Paris auf der Ausstellung den Preis zugesprochen hatte. »Urteile du deshalb, welche der Göttinnen die Schönste ist.«
»Wahrlich« - als Paris antwortete, hatte sie das Gefühl, seine Stimme dringe aus ihrem Mund - »in all ihren Erscheinungen ist die Göttin die Schönste… «
Jungenhaftes Lachen drang über ihre Schulter. »Und kannst du SIE in allen Göttinnen verehren, ohne eine der anderen vorzuziehen? Selbst der Himmelsvater scheut vor einer so schwierigen Entscheidung zurück!« Man legte Paris etwas Glattes, Kühles und sehr Schweres in die Hände, und sein Gesicht leuchtete in einem goldenen Widerschein. »Nimm diesen Apfel und reiche ihn der schönsten Göttin.«
Die Gestalt in der Tür bewegte sich kaum merklich; der Vollmond krönte sie mit einem Strahlenglanz, und ihre Gewände schimmerten wie glänzender Marmor. Hera, die Königin des Himmelsvaters, stand dort gebieterisch und majestätisch, mit der Erde verwurzelt, die sie jedoch beherrschte. »Diene mir, Paris, und du sollst groß werden. Du wirst über alle bekannten Länder herrschen, und der Reichtum der Erde soll dir gehören.«
Kassandra fühlte, wie Paris den Kopf neigte. »Wahrlich, Herrin, du Mächtigste aller Königinnen, du bist schön.« Aber der Apfel lag noch immer schwer in seiner Hand.
Kassandra hob vorsichtig den Kopf; sie fürchtete den Zorn der Göttin. Aber das Mondlicht schien jetzt durch einen goldenen Dunst zu fallen und sich im Helm und dem Schild der Göttin widerzuspiegeln. Auch diese Gestalt verströmte das goldene Licht, und auch die Eule auf der rechten Schulter strahlte in IHREM Glanz. »Du wirst sehr viel Weisheit erlangen, Paris«, sagte Athene. »Du weißt bereits, daß du nicht über die Welt herrschen kannst, wenn du dich nicht selbst beherrschst. Ich werde dir das Wissen um das Wesen schenken. Darauf ruht alles andere Wissen. Du sollst Weisheit besitzen und in allen Schlachten den Sieg erringen.«
»Ich danke dir, Herrin. Aber ich bin ein Hirte und kein Krieger. Und hier in Troia gibt es keinen Krieg. Wer sollte es wagen, König Priamos herauszufordern?«
Kassandra glaubte, Verachtung auf dem Gesicht der Göttin zu entdecken, aber die Gestalt bewegte sich und kam so nahe, daß Kassandra glaubte, die Hand ausstrecken und SIE berühren zu können. Schild und Helm waren verschwunden, auch die hellen Gewänder, und ein Strahlen ging von dem vollkommenen Körper aus. Paris hob die Hände, die immer noch den Apfel hielten, um die Augen zu bedecken.
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