Die Feuer von Troia
»Strahlende Göttin«, murmelte er.
»Es gibt andere Schlachten, die ein Hirte leicht gewinnen kann. Und welchen Sieg kann es ohne Liebe und eine Frau geben, mit der man ihn teilt? Du bist schön, Paris, und eine Freude für alle Sinne.« Ihr Atem streifte seine Wange, und ihm schwindelte, als beginne der ganze Berg, sich um ihn zu drehen. Die Luft war warm und angenehm. Paris erstrahlte hell im goldenen Glanz der Göttin, die leise und verführerisch weitersprach und ihn zu sich zog. »Du bist ein Mann, den jede Frau voll Stolz heiraten würde - sogar Helena von Sparta, die schönste Frau der Welt.«
»Sicher kann sich keine Sterbliche mit DIR messen, Herrin.« Paris blickte in Aphrodites Augen, und Kassandra hatte den merkwürdigen Eindruck, daß sie und er gemeinsam ertranken, von einer Lichtflut erfaßt wurden, die den Augen der Göttin der Liebe entströmte.
»Aber Helena ist nicht ganz eine Sterbliche. Sie ist eine Tochter von Zeus, und ihre Mutter war schön genug, um IHN zu verlocken. Sie ist beinahe so schön wie ich, und außerdem gehört ihr Sparta. Alle Männer begehren sie. Alle Könige der Argiver haben um ihre Hand angehalten. Sie hat Menelaos gewählt, aber ich versichere dir, wenn sie auch nur einen Blick auf dich wirft, wird sie ihre Entscheidung vergessen. Denn du bist schön, und Schönheit zieht alles an.«
Kassandra dachte an Oenone, die schlafend an Paris’ Seite lag. Was will er mit einer schönen Frau? Er hat bereits eine - aber Paris war sich ihrer Anwesenheit offenbar nicht bewußt. Der Apfel in seiner Hand schien federleicht zu sein, als er ihn Aphrodite reichte, und der goldene Glanz leuchtete auf, als wolle er ihn verzehren …
Das Sonnenlicht traf ihre Augen. Es fiel durch die offene Zeltklappe, die Elaria gerade zurückgeschlagen hatte. »Wie geht es dir heute morgen, Augenstern?«
Kassandra streckte sich vorsichtig und kniff die Augen vor dem Licht zusammen - es waren nur Sonnenstrahlen, nicht die leuchtenden Mondpfeile der Göttin. War es eine Vision oder nur ein Traum gewesen? Ihr Traum oder der ihres Bruders? Drei Göttinnen - aber keine war die jungfräuliche Jägerin gewesen. Warum nicht? Vielleicht interessiert sich Paris nicht für Jungfrauen , dachte sie frech. Aber von der Erdmutter war auch nichts zu sehen gewesen. Oder war die Erdmutter dieselbe Göttin wie Hera? Nein, denn die Erdmutter ist eine unabhängige Göttin und auch nicht die Gemahlin eines Gottes. Diese Göttinnen waren die Gemahlin und die Töchter des Himmelsvaters. Sind es also dieselben Göttinnen wie die Göttinnen von Troia?
Nein, das konnte nicht sein. Warum sollte eine Göttin sich bereit finden, sich dem Urteil eines Mannes - oder sogar eines Gottes zu unterwerfen?
Keine dieser Göttinnen ist die Göttin, wie ich sie kenne - die Jungfrau, Erdmutter, Schlangenmutter - nicht einmal Penthesileas Mutter der Stuten. Vielleicht können in einem Land, über das Himmelsgötter herrschen, nur Göttinnen gesehen werden, die als Dienerinnen des Gottes gelten? Der Gedanke verwirrte sie noch mehr.
Es kann nicht mein Traum gewesen sein, denn wenn ich von Göttinnen geträumt hätte, dann wären es die Göttinnen gewesen, die ich verehre und anbete. Von diesen Göttinnen habe ich gehört. Mutter hat mir von Athene und ihren Geschenken, der Olive und der Rebe, erzählt. Aber es sind nicht meine Göttinnen, und auch nicht die der Amazonen.
»Kassandra? Schläfst du noch?« fragte Elaria. »Wir reiten nach Kolchis zurück, und Penthesilea hat nach dir gefragt.«
»Ich komme«, sagte Kassandra und zog die Reithose an. Als sie sich bewegte, schien der Traum - oder die Vision - von ihr abzufallen, und zurück blieb nur die seltsame Erinnerung an die fremden Göttinnen.
Es ist nicht meine Vision, sondern die meines Bruders.
»Sag meiner Tante, daß ich gleich komme«, rief Kassandra. »Ich will mir nur noch die Haare bürsten.«
»lch werde dir helfen«, sagte Elaria und kniete neben ihr nieder. »Hast du Kopfschmerzen? Der Verband ist verrutscht. Aha, von einer Narbe ist nichts zu sehen. Die Wunde heilt sauber. Die Göttin meint es gut mit dir.«
Kassandra fragte sich: Welche Göttin? Aber sie sprach ihre Frage nicht aus. Bald saß sie im Sattel, und als sie zu dem langen Ritt nach Kolchis aufbrachen, sah Kassandra in dem strahlenden Sonnenlicht die Gesichter und Gestalten aller Göttinnen der Welt.
Aber was wollen die Göttinnen der Achaier von meinem Bruder oder von mir? Oder von
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