Die Feuer von Troia
Kassandra verschmitzt zu, wurde aber gleich wieder ernst.
»Sag mir«, begann Evadne, »alle Frauen müssen den Unsterblichen dienen - und auch alle Männer. Willst du IHNEN dienen, wenn sie es verlangen, oder willst du dein Leben dem Dienst an IHNEN weihen?«
»Ich bin bereit, mein Leben diesem Dienst zu weihen, aber ich weiß nicht, was die Götter von mir verlangen.«
Evadne reichte ihr das Gewand, das Andromache über eine Bank gelegt hatte. »Gehen wir in den Vorraum, damit wir die Prinzessin nicht stören«, sagte sie. Als sie das Schlafgemach verlassen hatten, fragte Evadne: »Sag mir, weshalb möchtest du eine Priesterin werden?«
Kassandra erzählte ihr von ihrem Erlebnis im Tempel des Sonnengottes und sprach zum ersten Mal ohne Zögern darüber. Die Frau kannte die Unsterblichen, und wenn ein lebender Mensch sie verstehen würde, dann Evadne. Die Priesterin hörte ihr schweigend zu und lächelte leicht.
»Der Sonnengott ist ein eifersüchtiger Herr«, sagte sie schließlich, »und ich sehe, daß ER dich gerufen hat. Nun ja, jede Frau gehört der Mutter, und ich kann dir das Recht nicht verweigern, auch IHR gegenüberzutreten. «
Kassandra sagte: »Meine Mutter hat mir erzählt, daß die Schlangenmutter und der Sonnengott von alters her Feinde sind. Sag mir, Herrin« - die ehrfürchtige Anrede kam ihr ganz selbstverständlich über die Lippen - »ist es wahr, daß der Sonnengott Apollon mit der Schlangenmutter gekämpft und sie erschlagen hat? Bin ich dem Sonnengott untreu, wenn ich der Mutter diene?«
»Sie, die Allmutter, wurde nie geboren, und deshalb kann sie nie getötet werden«, erwiderte Evadne mit einer ehrfürchtigen Geste. »Und der Sonnengott… die Unsterblichen verstehen sich, und sie sehen diese Dinge nicht so, wie wir es vielleicht tun. Man sagt, die Erdmutter hatte zuerst IHREN Altar an der Stelle, an der Apollon SEINEN Tempel errichtete; und man sagt, während der Tempel erbaut wurde, kam eine Schlange aus dem Nabel der Erde, und der Sonnengott - oder vielleicht SEIN Priester, es macht keinen Unterschied - tötete das Tier mit seinen Pfeilen. Und deshalb verbreiten Unwissende, ER habe Streit mit der Schlangenmutter gehabt. Aber der Sonnengott ist wie alle anderen Wesen IHR Kind.«
»Dann darf ich also dem Ruf der Mutter folgen, obwohl der Sonnengott mich gerufen hat?«
»Alle Wesen auf der Erde müssen IHR dienen«, erwiderte die Priesterin mit einer ehrfürchtigen Geste. »Mehr darf ich einer Uneingeweihten nicht sagen. Ich glaube, du solltest dich jetzt waschen und dich darauf vorbereiten, mit den anderen zusammenzutreffen, die sich mit dir auf den Weg machen. Wenn du willst, kann ich dir später ein paar Geschichten von der Göttin erzählen, in deren Gestalt sie hier verehrt wird.«
Kassandra beeilte sich, der Priesterin zu gehorchen. Sie ordnete das Gewand, das sie schnell übergeworfen hatte. Es war ihr zu lang und reichte bis zu den Knöcheln. Sie zog es am Gürtel hoch, damit sie ungehindert gehen konnte. Dann kämmte sie sich die dunklen Haare und ließ sie offen auf die Schultern fallen, denn man hatte ihr gesagt, das sei Sitte bei Jungfrauen in dieser Stadt, obwohl sie es lästig fand, wenn die Haare nicht ordentlich geflochten waren, sondern lose herabhingen und vom Wind erfaßt wurden.
Von der Straße drang der Festlärm herauf. Frauen mit grünen Zweigen und Blumensträußen verließen die Häuser. Evadne führte Kassandra in den Thronsaal, wo eine Gruppe etwa gleichaltriger Mädchen wartete. Der Thron war leer und mit einem goldgewirkten Tuch verhüllt, auf dem zusammengerollt Imandras große Schlange lag.
»Sieh doch«, flüsterte ein Mädchen. »Man sagt, die Königin ist auch eine Priesterin und kann sich in eine Schlange verwandeln.«
»Unsinn«, erwiderte Kassandra. »Die Königin ist wahrscheinlich nicht hier und hat die Schlange als Symbol ihrer Macht auf dem Thron zurückgelassen.«
Kassandra entdeckte Penthesilea unter den wartenden Frauen und ging unauffällig zu ihr. Die Amazonenkönigin ergriff ihre Hand und drückte sie fest. Kassandra fürchtete sich zwar nicht direkt, freute sich aber über die beruhigende Geste. Auch Imandra stand unter den wartenden Frauen, aber Kassandra erkannte sie zuerst nicht, denn die Königin trug das schlichte Gewand einer Priesterin. Kassandra fand das vernünftig - auch in Troia war die Königin die sterbliche Vertreterin der großen Göttin.
Es überraschte sie, daß sie Andromache nirgends entdeckte. Wenn ihre
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