Die Feuer von Troia
zerriß sie; ein Blitz enthüllte grausame Augen und hackende, zerrende Schnäbel - etwas Fremdes schien durch sie hindurch zufließen, erfüllte sie wie tiefes dunkles Wasser und löschte alle Gedanken, jedes Bewußtsein aus. Sie blickte aus großer Höhe auf jemanden hinab, der sie war und gleichzeitig auch nicht war, und sie wußte, sie sah das Antlitz der Göttin. Dann verlor sie den letzten schwachen Halt; sie verlor das Bewußtsein und fiel, sich immer noch wehrend, in bodenloses, schweigendes, blendendes Licht. Jemand berührte sanft ihr Gesicht.
»Öffne die Augen, mein Kind.«
Kassandra fühlte sich krank und schwach, aber sie öffnete die Augen. Stille und kühle, feuchte Luft umgaben sie. Sie war wieder in der Höhle … Hatte sie die Höhle überhaupt verlassen? Ihr Kopf lag in Penthesileas Schoß wie auf einem Kissen; ein Lichtschein ließ ihr Gesicht verschwimmen, so daß Kassandra schützend die Hände vor die Augen hob.
»Du - du bist ja die Göttin … «, stieß sie hervor und verstummte aus Ehrfurcht vor der Amazonenkönigin. Kassandras Augen schmerzten, und sie schloß sie wieder.
»Natürlich«, flüsterte die Ältere, »du auch, mein Kind. Vergiß das nie.«
»Aber was ist geschehen? Wo bin ich? Ich war… «
Penthesilea legte Kassandra schnell warnend die Hand auf den Mund. »Still. Es ist verboten, über das Mysterium zu sprechen«, sagte sie, »aber du bist weit gekommen. Die meisten gehen nicht weiter als bis zum ersten Tor. Komm«, murmelte Penthesilea.
Kassandra erhob sich mühsam, und ihre Tante stützte sie.
Die Trommeln schwiegen. Nur das Feuer brannte, und sie hörte jetzt leise klagende Töne und sah die Flötenspielerin: eine magere Frau, die auf der anderen Seite des Feuers kauerte. Ihre Augen waren leer, und sie schwankte leicht wie in Ekstase. Wenigstens waren das Feuer und die Flöte Wirklichkeit gewesen. In einem Kreis um das Feuer lag etwa die Hälfte der Mädchen immer noch in Trance. Eine ältere Priesterin wachte über jedes. Der Kreis hatte leere Stellen. Penthesilea ermahnte sie, vorsichtig und ohne jemand zu berühren, zum Ausgang der Höhle zu gehen. Draußen regnete es. Aber am dämmrigen Licht erkannte Kassandra, daß der Tag beinahe vorüber war. Die Regentropfen fühlten sich eiskalt und sauber auf ihrem Gesicht an. Ihr war übel, und sie hatte schrecklichen Durst. Sie versuchte, mit den Händen Regen aufzufangen, um ihn zu trinken. Aber Penthesilea führte sie durch eine Tür, an die sie sich unbestimmt erinnerte. Sie kamen in Imandras Thronsaal, in dem Lampen brannten. Hier hatte der magische Weg begonnen. Kassandra ging immer noch vorsichtig, als sei sie ein zerbrechliches Gefäß, das bis zum Rand mit einem fremden Wein gefüllt war, der bei einer unvorsichtigen Bewegung auslaufen würde. Von irgendwoher kam Königin Imandra, umarmte sie und drückte sie fest an sich.
»Willkommen zurück, kleine Schwester, aus dem Reich, wo die Dunkle dich geführt hat. Dein Weg war lang, aber ich freue mich über die sichere Rückkehr«, sagte die Königin, »nun bist du eins mit uns allen, die IHR gehören.«
Penthesilea sagte: »Sie hat alle drei Tore durchschritten.«
»Ich weiß«, erwiderte Imandra, »aber diese Einweihung hätte schon lange stattfinden sollen. Sie ist eine geborene Priesterin, und es war schon spät dafür.«
Sie trat zurück und faßte Kassandra bei den Schultern, wie ihre Mutter es vielleicht getan hätte. »Du bist blaß, Kind. Wie fühlst du dich?«
»Bitte«, sagte Kassandra, »ich bin so durstig.« Aber als Penthesilea ihr Wein eingoß, wurde ihr von dem Geruch übel, und sie bat um Wasser. Es war klar und kalt und löschte ihren Durst. Aber wie alles, was sie in der nächsten Zeit aß und trank, schmeckte es stark schleimig und nach Fisch.
Imandra sagte: »Vergiß nicht, dir zu merken, was du heute nacht träumst. Es wird eine besondere Botschaft der Erdtochter sein.« Dann fragte sie Penthesilea: »Wirst du nun bald in den Süden zurückkehren, nachdem sich IHR Wort erfüllt hat?«
»Sobald Kassandra reiten kann, und Andromache bereit ist, mit ihr nach Troia zurückzukehren«, erwiderte die Amazonenkönigin.
»So sei es«, sagte Imandra, »ich habe Andromaches Mitgift zusammengestellt und ein großes Gefolge, das sie begleiten wird. Für unsere junge Verwandte, die Priesterin, habe ich ein Geschenk.« Das Geschenk war eine Schlange. Sie war klein und grün und glich Imandras Schlange. Aber sie war nicht länger als ihr
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