Die Feuer von Troia
Base im letzten Jahr eingeweiht worden war, warum befand sie sich nicht bei den anderen Priesterinnen? Aber Andromache schien sich nicht sehr mit religiösen Dingen zu beschäftigen. Zögerte Imandra auch deshalb, ihre Tochter als Nachfolgerin auf dem Thron zu bestimmen? Bis zu diesem Augenblick hatte sie Imandras Gedanken dazu nicht gekannt, aber allmählich gewöhnte sie sich daran, Unausgesprochenes zu hören und Unsichtbares zu sehen. Mit einer Geste brachte Imandra die schnatternden Mädchen zum Schweigen, und die Frauen, die bereits eingeweihte Priesterinnen waren, versammelten sich um sie. Kassandra bemerkte, daß sie die älteste der Anwärterinnen war. Vermutlich verlangte die Sitte in dieser Stadt, daß Frauen etwas jünger eingeweiht wurden. Sie fragte sich, ob all diese Mädchen ihr Leben der Göttin weihten, oder ihr nur »dienten, wenn es von ihnen gefordert wurde«. Evadne hatte ihr gegenüber diesen Unterschied angedeutet. Jedenfalls war dies eine erste Einweihung, und man sah darin scheinbar selbstverständlich den ersten Schritt für den Dienst an den Unsterblichen.
Die älteren Frauen bildeten einen Kreis um die uneingeweihten Mädchen, in deren Mitte Imandra stand. Irgendwo hinter ihnen hörte Kassandra den Schlag einer Trommel: ein weicher, unaufhörlicher Ton wie ein Herzschlag.
»In dieser Zeit des Jahres«, begann Imandra, »feiern wir die Rückkehr der Erdtochter aus der Tiefe, wo Sie während des kalten Winters gefangengehalten wurde. Wir sehen SIE kommen, wenn das Grün des Frühlings sich über das kahle Land breitet und Wiesen und Wälder mit den leuchtenden Blättern und Blumen überzieht.« Stille; nur das endlose Tönen der Trommeln, die Frauen in ihrem Rücken schlugen.
»Wir sitzen hier im Dunkel und warten auf die Rückkehr des Lichtes. Jede von uns wird auf der Suche nach der Erdtochter in das Reich der Dunkelheit hinabsteigen. Jede von uns wird gereinigt werden und die Wege der Wahrheit erfahren. «
Die Worte erklangen in einem eintönigen Singsang und erzählten die Geschichte der Erdtochter. Man hatte Sie in das Reich der Tiefe gelockt; die Schlangen hatten SIE getröstet und geschworen, keine von ihnen würde IHR jemals ein Leid antun. Kassandra kannte nur Teile der Geschichte; entweder war sie den Uneingeweihten nicht bekannt, oder man hielt es nicht für richtig, daß Außenstehende sie erfuhren. Aufmerksam und gefesselt hörte sie zu. Ihr Kopf begann zu schmerzen, denn die Trommeln schlugen unaufhörlich weiter und weiter.
Sie schien in einem Traum gefangen zu sein, der viele Tage anhielt. Sie wußte, sie war wach, aber nie ganz bei Bewußtsein. Irgendwann später bemerkte sie, ohne die leiseste Vorstellung zu haben, wie oder wann es geschehen war, daß sie sich nicht mehr im Thronsaal befanden, sondern in einer großen dunklen Höhle. Wasser tropfte von den feuchten Wänden, die hoch in den hallenden Raum aufragten, der die Stimmen hohl klingen ließ, und in dem sich selbst der Klang der Trommeln zu verlieren schien.
Von irgendwoher drangen schwach die Töne einer Hirtenflöte und riefen sie in einer Stimme, die sie beinahe erkannte. Dann spürte sie - es war so dunkel, daß sie beinahe nichts sah -, wie eine flache Tonschale mit erhabenen Verzierungen von Hand zu Hand ging. Jedes der Mädchen setzte die Schale an die Lippen, trank und reichte sie weiter. Später konnte Kassandra sich nicht mehr daran erinnern, was man gesagt hatte, als man sie zum Trinken aufforderte. Bis ihre Lippen die Flüssigkeit berührten, hatte sie geglaubt, es sei Wein.
Sie schmeckte etwas seltsam Schleimiges, Bitteres, das sie an den Geruch des verdorbenen Roggens erinnerte, den Penthesilea ihr aufgetragen hatte, nie zu vergessen. Als sie schluckte, glaubte sie, ihr Magen würde sich wehren, aber wild entschlossen überwand sie die Übelkeit und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Trommeln. Die Geschichte war zu Ende; aber nicht um alles in der Welt hätte sie sich an das Ende oder an das Schicksal der Erdtochter erinnern können.
Nach einiger Zeit wurde ihre Verwirrung so groß, daß sie glaubte, nicht länger im Kreis der Frauen und in der Höhle zu sein. Sie wußte nicht, wo sie sich befand, aber sie machte sich deshalb keine Sorgen. Ihr kam der Gedanke, das Getränk könne eine Art Droge gewesen sein, aber auch darüber machte sie sich keine Sorgen. Sie berührte den feuchten kalten Boden und stellte überrascht fest, daß er sich wie Steinplatten anfühlte. Hatte sie sich
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