Die Feuer von Troia
wußte.
Oenone lag in einer Hängematte und gab ihrem Sohn die Brust. Als Kassandra sie umarmte, wurde ihr bewußt, wie zart die junge Frau war: Oenone , dachte sie, und nicht ich hat den Geist einer Kriegerin im Körper einer Feldmaus. Oenone wirkte so zerbrechlich, daß Kassandra sie kaum zu berühren wagte.
»Geht es dir gut, meine Schwester?« fragte Kassandra und benutzte das Wort ganz bewußt. Sie mochte Oenone lieber als Kreusa oder sogar Polyxena. Aber in ihrer Nähe spürte sie wieder den beunruhigenden Drang, Oenone zu liebkosen, und da sie nicht wußte, ob er ihren eigenen Gefühlen oder denen von Paris entsprang, war sie in ihrer Nähe immer gehemmt und schüchtern.
»Ich hätte dich besucht, als ich bei Kreusas Hochzeit hier war, meine Liebe. Aber man sagte mir, es gehe dir nicht gut genug, um jemanden zu empfangen.«
Oenone lächelte und erwiderte: »Nun ja, nachdem Andromaches Sohn geboren und Hektors Platz gesichert ist, muß ich um meinen Sohn nicht mehr fürchten.«
Kassandra war entsetzt. »Es gibt doch keinen Grund, um ihn zu fürchten … «
»Ich hoffe es«, sagte Oenone. »Aber es ist Hektor gelungen, Paris loszuwerden, und ich glaube nicht, daß er über Paris’ Sohn glücklich ist oder einen Grund hat, ihn zu lieben.«
»Du beurteilst Hektor bestimmt falsch«, sagte Kassandra. »Er hat nie erkennen lassen, daß er eifersüchtig auf Paris ist - jedenfalls mir gegenüber nicht. «
Oenone lachte und sagte: »0 Kassandra! Ich glaube, du weißt nicht, wie sehr sich jeder darum bemüht, daß du eine gute Meinung von ihm hast, und wie sehr alle versuchen, sich dir nur von der besten Seite zu zeigen. Wenn Hektor eifersüchtig ist, dann erfährst du es als letzte. «
Kassandra errötete. Um das Thema zu wechseln, hob sie den Kleinen hoch und wiegte ihn. »Er ist niedlich«, sagte sie. »Findest du, er sieht seinem Vater oder dir ähnlich?«
»Er ist noch zu klein, um das zu sagen«, erwiderte Oenone. »Ich hoffe, er wird so aufrichtig und ehrenhaft wie mein Vater. «
Kassandra spürte die Enttäuschung, die in den Worten lag, vielleicht stärker als Oenone selbst. Sie sagte: »Er kann ja auch wie du werden, und dann wird niemand daran zweifeln, daß er gut ist.«
»Nur die Zeit wird zeigen, ob Hektors Sohn wirklich besser geeignet ist als er, einmal über die Stadt zu herrschen. Aber ich freue mich wirklich, daß er diese Last nicht tragen muß und ihm dieses Schicksal erspart bleibt.«
Kassandra sagte schnell: »Oenone, beneide Hektors Sohn nicht um sein Schicksal. «
»Was hast du gesehen?« fragte Oenone ängstlich. »Nein, sag es mir nicht. Ich habe gehört, was du bei Andromaches Hochzeit prophezeit hast. So etwas wünsche ich meinem Sohn nicht … Paris’ Sohn.«
»Ach ja, ich habe auch mit Andromache darüber gesprochen«, sagte Kassandra. »Bei den Amazonen trägt ein Sohn den Namen seiner Mutter. Hektor wäre der Sohn Hekabes… . «
»Und mein Kind der Sohn von Oenone, nicht der Sohn des Paris vom Haus des Priamos«, sagte Oenone. »Das wäre nur richtig, aber in eurer Stadt tragen nur die Söhne von Huren die Namen der Mutter und nicht den des Vaters.«
Kassandra sagte freundlich: »Niemand würde dir das anhängen, Oenone, das kann ich bezeugen.« Doch ihre Worte waren bedeutungslos, denn es lag nicht in ihrer Macht, die Dinge zu ändern. Andromache hatte Hektor in aller Öffentlichkeit geheiratet. Oenone dagegen war, wie es schien, nur dadurch Paris’ Frau, daß sie ihn mit dem Segen ihres Vaters genommen hatte.
»Wer war deine Mutter, Oenone?«
»Ich habe sie nicht gekannt«, erwiderte Oenone, »und Vater sagte mir, sie ist jung gestorben. Auch sie war eine Priesterin im Heiligtum des Flußgottes.«
Ja, Frauen, die die Kinder der Götter gebären, stehen noch mehr im Schatten als die Frauen, die Kinder von Männern zur Welt bringen . Sie küßte Oenone und versprach, ihrem Sohn ein Geschenk zu schicken. Auf dem Rückweg zum Tempel des Sonnengottes mußte Kassandra über vieles nachdenken. Wenn es mehr Männer wie Aeneas auf der Welt gab, dann gab es vielleicht auch einen Mann, den sie bereit wäre zu heiraten.
Eines Morgens saß sie in Phyllidas Zimmer und hielt das kleine blonde Kind auf den Armen, während die junge Mutter frisch gewaschene Windeln und Decken zusammenlegte. Sie hatte dem Kleinen die Windeln abgenommen, damit er ungehindert strampeln konnte und hielt die rundlichen Füßchen in den Händen. Sie bewunderte die weichen, vollkommen
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