Die Feuer von Troia
geformten winzigen Zehen und Nägel, beugte sich vor und küßte die Füßchen und liebkoste sie mit den Lippen. Sie blies ihm über den kleinen weichen Bauch, um ihn zum Lachen zu bringen, und lachte dabei selbst. In diesem Augenblick wünschte sie sich beinahe ein eigenes Kind, um mit ihm zu spielen; obwohl sie auf die notwendigen Vorbedingungen dazu gerne verzichten wollte. Phyllida kam herüber, um ihren Sohn zu holen, aber Kassandra hielt ihn fest. »Er mag mich«, erklärte sie stolz. »Ich glaube, er weiß, wer ich bin - nicht wahr, mein kleiner Schatz?«
»Warum auch nicht?« sagte Phyllida. »Du bist immer bereit, ihn zu verwöhnen und im Arm zu halten, während ich viel zuviel zu tun habe, um ihm all die Aufmerksamkeit zu schenken, die er haben möchte.«
Als der Kleine die Stimme seiner Mutter hörte, begann er zu weinen und streckte die Händchen nach ihr aus.
»Er ist hungrig«, sagte Phyllida ergeben und löste ihre Tunika am Hals. »Und leider kannst du mir das nicht abnehmen.«
»Ich würde es gerne, wenn ich es könnte.« flüsterte Kassandra.
»Ich weiß«, sagte Phyllida, setzte sich und legte das Kind an die Brust.
Kassandra betrachtete die beiden und spürte die dunkle Flut einer Vision aufsteigen und wieder zurückweichen.
»Kassandra, sag mir doch, was du siehst«, bat Phyllida und starrte sie ängstlich an.
Kassandra blieb stumm.
Ich habe drei kleine Kinder in den Armen gehalten und ihre Zukunft nicht gesehen. Was bedeutet das? Kann ich es vielleicht nicht, weil ich sterbe und nicht mehr erlebe, wie sie erwachsen werden? Wenn es doch nur so einfach wäre…. Wenn es nur das wäre, würde ich mich von den Stadtmauern stürzen, noch ehe die Sonne untergegangen ist.
Aber das war ihr nicht bestimmt. Auf sie wartete ein Schicksal, und sie mußte leben, um es zu ertragen.
Kassandra küßte Phyllida und den Kleinen und sagte ausweichend: »Wir müssen alle unser Schicksal ertragen. Du, ich und auch dein Sohn. Glaube mir, wenn man das Schicksal kennt, wird es nicht leichter.«
»Ich verstehe dich nicht«, sagte Phyllida.
»Ich verstehe mich selbst nicht«, sagte Kassandra und ging hinaus in den Tempelhof. Von dort sah man das Meer, und sie entdeckte ein Schiff. … Ja, Andromache hatte gesagt, Paris’ Schiff sei gesichtet worden.
Es gehörte nicht zu ihren Pflichten, Paris bei seiner Rückkehr willkommen zu heißen. Aber etwas Stärkeres als Pflicht zog sie in die Stadt.
Als Kassandra die lange Straße hinunterging, sah sie, wie sich am Schiff ein Zug formierte und sich in Richtung Palast in Bewegung setzte.
Paris stand auf seinem Streitwagen - vermutlich hatte er ihn als erstes ausladen lassen, damit er im Gegensatz zu seinem unangekündigten Erscheinen bei den Spielen diesmal einen eindrucksvollen Einzug in die Stadt halten konnte. Neben ihm stand eine Frau, die ein langer Schleier verhüllte.
War es Paris wirklich gelungen, Hesione nach Troia zurückzubringen? Kassandra ging etwas schneller und erreichte das Palasttor, als Paris gerade vorfuhr. Priamos und Hekabe erwarteten ihn bereits. Hektor stand hinter seinem Vater und sah nicht sonderlich glücklich aus. Kassandra vermißte Andromache. Ihre Freundin würde sich dieses Schauspiel doch nicht entgehen lassen? Sie warf einen Blick nach oben und entdeckte Andromache am Fenster ihres Gemachs. Neben ihr stand Oenone. Sie hielten beide ihre Söhne auf den Armen. Selbst in dieser Entfernung glaubte Kassandra zu sehen, daß Oenone leichenblaß war.
Paris sprang vom Streitwagen und hob die verschleierte Frau herab. Dann verneigte er sich tief vor Priamos, der ihn aufhob und umarmte.
»Willkommen zu Hause, mein Sohn.« Er streckte der verschleierten Frau die Hand entgegen, die bewegungslos neben dem Streitwagen stand. »Du hast deine Aufgabe also erfolgreich durchgeführt, mein Sohn?«
»Der Erfolg übertrifft unsere kühnsten Erwartungen.«
Hektor versuchte, ein erfreutes Gesicht zu machen. »Dann hast du uns Hesione zurückgebracht, Bruder?«
»Nein, das nicht«, erwiderte Paris. »Mein König und mein Vater, ich bringe dir eine Beute, die weit größer ist als die, die ich bringen sollte. «
Er führte die Frau vor den König und zog ihren Schleier zurück. Kassandra verschlug es den Atem. Die Frau war unvorstellbar schön.
Sie war groß und hatte eine vollkommene Gestalt; ihre feinen Haare schimmerten wie pures Gold; ihre Züge wirkten wie aus Marmor gemeißelt, und die Augen waren so blau wie das tiefe stürmische
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