Die Feuer von Troia
könnte, würde ich dir ein langes und ehrenvolles Leben wünschen, viele Söhne und Töchter, die dich und Hektor in einem ehrenvollen Alter auf dem Thron von Troia umgeben.«
Nur die Götter wissen, wie sehr ich wünsche, ich hätte das prophezeien können .
Andromache lächelte und griff nach Kassandras Hand.
»Vielleicht zählt dein guter Wille mehr als deine Prophezeiung«, sagte sie. »Kannst du weit genug in die Zukunft sehen, um zu wissen, wie lange es dauert, bis Hektors Kind geboren wird - und ob es ein Sohn ist? Meine Mutter hätte lieber, daß mein erstes Kind eine Tochter wäre. Aber Hektor spricht nur von seinem Sohn, also wünsche ich mir auch einen Knaben. Werde ich die Geburt überleben und sein Gesicht sehen?«
Kassandra drückte die zarte Hand ihrer Freundin mit großer Erleichterung.
»0 ja, es ist ein Junge«, sagte sie. »Du wirst einen prächtigen starken Sohn bekommen und du wirst ihn heranwachsen sehen…«
»Deine Worte machen mir Mut«, sagte Andromache, und Kassandra spürte einen Kloß im Hals. Sie dachte an das Feuer, das sie bei Andromaches Hochzeit gesehen hatte.
Vielleicht war es doch Wahnsinn, wie meine Mutter gesagt hat, und keine echte Prophezeiung. Ich möchte lieber verrückt sein, als an diesem stillen Ort und unter diesen friedlichen Sternen zu glauben, daß allen, die ich liebe, Feuer und Unheil droht.
»Kassandra, du träumst schon wieder. Komm und hilf uns, die Braut zu entkleiden«, sagte Andromache. »Wir können die Knoten nicht lösen, mit denen du die Blumen in Kreusas Haar gebunden hast.«
»Ich komme«, sagte Kassandra schnell und half den anderen, ihre Halbschwester für das Kommen ihres Gemahls vorzubereiten. Sie freute sich aus ganzem Herzen, daß sie kein Unheil vorausgesehen hatte.
20
Nach all dem Lärm und dem Trubel der Hochzeit schien der Tempel noch stiller und friedlicher, noch weiter entfernt von der Unruhe des Alltags zu sein. Zehn Tage nach Kreusas Hochzeit rief man Kassandra wieder zu einer Feier in den Palast: die Geburt eines Sohnes von Hektor und Andromache, das erste Enkelkind des Priamos.
»Aber es ist nicht das erste Enkelkind«, sagte Kassandra. »Oenone hat einen Sohn von Paris. «
»Das mag sein, wie es will«, erwiderte der Bote. »Aber Priamos hat beschlossen, Hektors Kind als seinen ersten Enkel anzuerkennen, und soviel ich weiß, hat der König das Recht zu bestimmen, wer nach Prinz Hektor der nächste in der Erbfolge sein soll.«
Das stimmte. Aber Kassandra fand, es sei hart für Oenone, erleben zu müssen, daß ihr Sohn wie sein Vater übergangen wurde.
Kassandra schätzte inzwischen die Ruhe und den Frieden des Tempels und wehrte alles nach Möglichkeit ab, was ihn störte. Aber sie erhielt die Erlaubnis, Andromache einen Besuch abzustatten. Sie fand sie in den prächtigen Räumen mit den Wandbildern der Meereswesen. Sie saß, von vielen Kissen gestützt, im Bett, und neben ihr in einem Weidenkörbchen lag das kleine Kind mit einem roten Gesichtchen. Andromache wirkte gesund und blühend; ihre Wangen hatten eine frische Farbe, und Kassandra war erleichtert. Viele Frauen starben im Kindbett oder danach; aber Andromache schien es gut zu gehen.
»Was soll der ganze Unsinn von Hektors Sohn?« fragte sie halb im Spaß. »Hast nicht du den größten Teil eines Jahres die Last gehabt, ihn zu tragen? Und hast nicht du die Schmerzen und Mühen der Geburt gehabt? Für mich ist er Andromaches Sohn!«
Andromache verzog das Gesicht und lachte: »Vielleicht geht es dir am besten, denn du gehörst dem Gott, und Männer dürfen dich nicht berühren. Nach all dem habe ich es nicht eilig, Hektor schnell wieder in meinem Bett zu sehen. Kinderkriegen ist ein weit überschätzter Zeitvertreib. Ich möchte ganz gerne ein paar Jahre warten, ehe ich es noch einmal versuche. Und dabei behauptet man, Frauen seien zu zart, um Waffen zu tragen, und hätten Angst vor Wunden. Ich frage mich, wie tapfer mein lieber Hektor sich in dieser Schlacht gehalten hätte!«
Sie kicherte: »Hörst du es nicht schon? Wir führen eine neue Sitte ein. Die Barden werden Balladen über die tapfere Hekabe, die Mutter von Hektor singen. Und warum auch nicht? Sie hat in dieser Schlacht zumindest ein dutzendmal gesiegt, und das bedeutet, sie besitzt mehr Mut, als ich je hoffen kann aufzubringen. Man erzählt uns von den Freuden der Ehe…‚ jedes Mädchen wird so erzogen, daß es an nichts anderes denkt. Aber man überläßt es uns, die Freuden des Kinderkriegens
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