Die Fieberkurve
energisch, wie einer, der weiß, was er will. »Es ist unchristlich, einen Kranken zu plagen – und vielleicht habe ich Ihr Vertrauen doch noch nicht ganz verscherzt – vielleicht glauben Sie mir noch, daß ich Ihnen kein Theater vorspiele...«
»Hm!« brummte Studer, noch nicht völlig versöhnt, noch nicht ganz überzeugt. Aber nicht umsonst wandte man sich an seine menschlichen Gefühle...
»Wir haben...«, sagte er leise, »in der Schweiz noch nicht die Methoden unserer Nachbarstaaten eingeführt. Schließlich... Wollen Sie ins Spital, Herr Koll... eh... Pater Matthias?«
»Nein, nein, das geht vorüber. Warten Sie, ich muß irgendwo noch pulverisierte Chinarinde haben... Hab' ich sie im Hotel gelassen? Nein... Da ist sie...« Er zog eine runde Blechbüchse – wie sie sonst für Hustenbonbons gebräuchlich ist – aus irgendeiner andern tiefen Tasche, schüttete etwas von dem braunen Pulver in den Tee, rührte um und trank die Mischung... Plötzlich stellte er die Tasse mit lautem Geklirr wieder ab und starrte auf ein kleines Nähtischchen, das beim Fenster stand. Angst war in seinen Augen zu lesen...
Aus der Küche kam Frau Studers Stimme: es sei ein Brief gekommen, er liege auf dem Tischli beim Fenster...
Pater Matthias folgte aufmerksam jeder Bewegung des Wachtmeisters. Studer nahm den Brief, sah ihn an: eine unbekannte Frauenschrift. Poststempel: Transit. Auf dem Bahnhof abgegeben, oder direkt in den Zug geworfen...
Studer riß die Enveloppe auf.
Ein einfaches Blatt:
»Lieber Vetter Jakob!
Beiliegend schicke ich Ihnen meinen Fund. Ich glaube, er wird Sie interessieren. Sie haben das Telephonbuch nicht sorgfältig genug durchsucht. Wie Sie sehen werden, kommt das leere Kuvert, das ich Ihnen schicke, aus Algerien. Aufgegeben wurde der Brief am 20. Juli vorigen Jahres in Géryville. Am 20. Juli! Am Todestage meines Vaters! – wenn auch die Fieberkurve anderer Meinung ist. Ich habe den Tod meiner Tante in Bern schon erfahren – Wie? Das darf ich Ihnen nicht verraten. Ich habe Angst. Darum will ich eine Zeitlang verschwinden. Suchen Sie mich nicht, lieber Vetter Jakob, es würde nichts nützen. Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich Ihnen erzählen durfte. Sie müssen die Sache jetzt aufklären. Denn ich bin sicher, daß auch Sie nicht an die beiden Selbstmorde glauben. Sie werden meinen Onkel Matthias noch sehen, das weiß ich; grüßen Sie ihn von mir. Wenn es Sie interessieren kann, so hat er gestern mit mir im Bahnhofbuffet zweiter Klasse zu Nacht gegessen und ist gegen zwölf Uhr mit einem Taxi nach Bern gefahren. Ich wünsche Ihnen viel Glück.
Ihre Marie Cleman.«
Die Enveloppe, die dem Briefe beilag, war ziemlich zerknittert. Sie war adressiert an »Madame Veuve Cleman-Hornuss, Spalenberg 12, Bâle«. Auf der Rückseite der Absender.– »Caporal Collani, 1 er Régiment Etranger, 2 me Bataillon, Géryville, Algérie.« Und der Poststempel trug wirklich das Datum des 20. Juli...
Als Studer aufblickte, begegnete er den ängstlichen Augen des Weißen Vaters. Und ängstlich war auch die Stimme, mit welcher der Priester fragte:
»Schreibt Ihnen meine Nichte?«
Studer nickte nur stumm. Er saß am Fenster, in seiner Lieblingsstellung, die Ellbogen auf die gespreizten Schenkel gestützt, die Hände gefaltet. Und er dachte: ›Wenn dies wirklich der »Große Fall« ist, von dem ich jahrelang geträumt habe, so ist er unerlaubt verkachelt... Was verkachelt!... Verhext ist er! Aber wir werden ihn schon deichseln, und wenn wir nach Algerien fahren müssen oder nach Marokko...‹ Zu welchem stummen Selbstgespräch einzig zu bemerken wäre, daß Studer es mit den Königen und andern gekrönten Häuptern hielt... Er dachte nie »ich«, sondern »wir«...
Frau Studer kam mit der Suppenschüssel.
»Tuets-ech nid störe, Herr Mönch, wenn mr z'Mittag essed?«
Pater Matthias lächelte und Studer belehrte seine Frau, daß dies kein Mönch, sondern ein Pater sei... Frau Studer entschuldigte sich. Dann setzte sie sich ihrem Manne gegenüber und begann die Suppe zu schöpfen; gerade als der Wachtmeister den ersten Löffel zum Munde führte, hörte er vom Ruhebett her ein leises Gemurmel. Erstaunt blickte er auf... Pater Matthias hatte die Hände auf der Decke gefaltet und murmelte ein lateinisches Gebet...
»Benedicite...«
Darob wurden die beiden alten Menschen am Tisch so verlegen, daß sie ungeschickt die Hände vor ihren Tellern falteten...
Das Testament
Um zwei Uhr nachmittags betrat Studer das
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