Die Fieberkurve
Bureau des Kommissärs an der Stadtpolizei. Er kannte sich dort aus, denn dies Bureau war während fünfzehn Jahren sein eigenes gewesen, bis ihn jene Bankgeschichte daraus vertrieben hatte. Aber Studer hatte es verstanden, sich die Freundschaft seines Nachfolgers zu erhalten.
Kommissär Werner Gisler bestand aus einem kahlen Kopf, der aussah, als werde er täglich mit Glaspapier geschmirgelt. Dieser Kopf saß auf einem gedrungenen Körper, der in Anzüge aus bäuerischem Stoff gekleidet war. Die Füße waren groß und steckten in Schnürschuhen, die Gisler sich nach Maß anfertigen ließ – denn er hatte Plattfüße... In Gesprächen liebte er es, die Empfindlichkeit seiner Füße zu erwähnen, ein unerschöpfliches Thema für ihn, denn diese Empfindlichkeit schien ihm ein Beweis seiner aristokratischen Abstammung zu sein. Nun, das war weiter nicht schlimm, manche haben es mit dem Magen, andere mit der Verdauung, die dritten mit der Blutzirkulation – der Stadtkommissär hatte es mit den Füßen...
Als Studer das Bureau betrat, war Gisler damit beschäftigt, seine Schuhe wieder zuzubinden. Es geschah unter Ächzen und Stöhnen, denn sein Spitzbäuchlein war ihm dabei im Wege. Nach der Begrüßung sagte er:
»Wenn Ihr wüßtet, Studer, wie diffizil das ist! Am Morgen zieht man die Schuhe an, man pressiert, man gibt nicht recht acht – und gleich hat man eine Falte in der Lederzunge. Man hat sie nicht recht gestreckt – und die Falte drückt einen, drückt einen den ganzen Tag! Immer denkt man an den Rumpf und hat dabei soviel Arbeit, daß man gar nicht dazu kommt, die Zunge zu glätten; man leidet, aber man geduldet sich, denn man denkt, einmal, im Lauf vom Tag, wird es schon eine Minute geben, um die Zunge glatt zu strecken... Man kann nicht intensiv an irgendeine Arbeit gehen, weil der Gedanke an den Falt in der Zunge immer wieder dazwischen kommt. Nun bin ich endlich einen Moment allein und da kommt Ihr! Da müßt Ihr Euch schon 's Momentli gedulden... Wißt Ihr, ich hab' so diffizile Füß!«
Studer drückte sein herzlichstes Beileid aus; er war es gewohnt, die Klagen seiner geplagten Mitmenschen, Kollegen, Freunde, Häftlinge, über sich ergehen zu lassen. Die Menschen mußten sich aussprechen, fand er, mußten über ihr Elend klagen dürfen, dann konnte man – wenn sie einmal mit den Klagen zu Rand gekommen waren – auch von ernsteren Dingen mit ihnen sprechen.
»Ich komm' da«, sagte er und nahm auf einem Stuhl Platz, »wegen der Geschichte in der Gerechtigkeitsgasse.«
»Gerechtigkeits... gasse...«, stöhnte Gisler und kämpfte mit dem Knoten seines Schuhbändels. Seine Glatze war purpurn und kleine Schweißtröpflein glitzerten auf ihr...
»Ja«, sagte Studer geduldig – man muß mit den Menschen Geduld haben, besonders wenn sie dick sind und einen Schuhbändel knüpfen müssen... »Gerechtigkeitsgasse 44. Hornuss Sophie... Leuchtgas... Ich bin selbst in der Wohnung gewesen und muß mich entschuldigen, daß ich auf eigene Faust eine Untersuchung geführt habe...«
»Pfuuuh... ähh... pfuh...«, machte der Kommissär, richtete sich endlich auf, betrachtete mißtrauisch seinen Schuh und ließ die Zehen darin spielen; endlich sagte er:
»Ich glaub', es wird gehen – wenn nur der Socken keine Rümpf übercho hätt!« Es schien nicht der Fall zu sein, denn Gisler stellte seinen Plattfuß auf den Boden, blickte aus hellblauen Äuglein gar unschuldig in die Welt: »G'wüß!« sagte er und nickte bedeutungsvoll. »G'rechtigkeitsgass' 44. Sophie Hornuss! Äbe... Äbe...« Und der Wachtmeister sei also in der Wohnung gewesen und habe gewissermaßen eine kleine Privatuntersuchung – hähähä – geführt... also geführt. Das solle ihm unbenommen bleiben. Ganz recht habe der Wachtmeister gehabt, und sehr kollegial sei es, daß er die Resultate seiner Untersuchung nun ihm, dem Kommissär Gisler, unterbreiten komme... Und wie seien diese Resultate?
»Daß es sich um einen Mord handelt...«
»Ja, ja«, seufzte Kommissär Gisler, »ein Mord! Der Reinhard hat etwas Ähnliches behauptet... Soso, und Ihr meinet, Studer, Ihr meinet auch, daß es... ääh... ein Mord ist?«
Ja, sagte Studer, er meine das auch. – Dann könne man vielleicht den Reinhard rufen lassen? Oder? – Doch doch, man könne den Reinhard rufen lassen und vielleicht auch den Murmann. Der sei doch bei der Entdeckung der Leiche dabei gewesen... – Ganz richtig, den Murmann!
Und Kommissär Gisler hob den Hörer ab, ließ dem Korporal
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