Die Fieberkurve
schien darauf hinzudeuten, daß Pater Matthias den Mörder kannte, ihn jedoch decken wollte... Und plötzlich – ein Sonnenstrahl brach durchs Fenster – blieb Studer stehen, geblendet, mitten in der Küche.
Koller!... Den Namen kannte er doch!... Den Namen hatte er schon gehört!... Und zwar in Verbindung mit einem Vornamen, der wie der seinige lautete... Gewiß: »Das junge Jakobli läßt den alten Jakob grüßen...« Aber...
Der Sekretär! Der ehemalige Sekretär des verstorbenen Geologen, der Sekretär, der Marie Cleman nach Paris mitgenommen, ihr ein Pelzjackett und seidene Strümpfe gekauft hatte, der Sekretär, der vor drei Monaten verschwunden war und mit dessen Verschwinden sich Kommissär Madelin von der französischen Police judiciaire beschäftigte! Dieser Mann hieß Koller!...
Nun konnte man ja zugeben, daß der Name Koller ein weitverbreiteter Name war... Immerhin...
Wachtmeister Studer stand inmitten der Küche, in welcher die geschiedene Sophie Hornuss gestorben war und sein Blick war so abwesend, daß sein Blick leer war wie der eines wiederkäuenden Ochsen. – Und falls es einem Leser einfallen sollte, diesen Vergleich despektierlich zu finden, so sei er daran erinnert, daß Homer die Augen der Göttin Hera, der Gemahlin des blitzeschleudernden Zeus, mit den Augen einer Kuh verglichen und diesen Vergleich sicher nicht beleidigend gemeint hat...
Und wieder wurde das Schweigen in der kleinen Küche drückend, bis Studer seine Uhr aus dem Gilettäschli zog und feststellte, daß es halb eins sei. Was gedenke der Herr Koller zutun? »Herr Koller!« sagte der Wachtmeister.
»Darf ich Sie begleiten, Inspektor?« fragte Pater Matthias schüchtern. Er schien vor dem Alleinsein Angst zu haben.
»Mynetwäge!«
Das Zwiespältige! Es ließ sich nicht erklären, es gehörte einfach zu der Person des Weißen Vaters... Und um der Erklärung dieses Zwiespältigen etwas näher zu kommen, nahm der Wachtmeister auch die Unannehmlichkeit mit in Kauf, an der Seite des Bekutteten durch die Stadt zu wandeln.
»Chömmet!« sagte er. »Wir können zusammen irgendwo essen. Aber zuerst muß ich in meine Wohnung. Vielleicht ist Bericht da von meiner Frau. Sie wissen ja,«, und plötzlich hörte er auf, seinen Begleiter zu »ihrzen«, »daß ich Großvater bin...«
Sie waren auf der Straße angelangt und wandelten langsam unter den Lauben.
»Großvater!« sagte Pater Matthias mit so erstickter Stimme, daß Studer Angst hatte, das Männlein werde wieder anfangen zu weinen. Darum lenkte er ab:
»Ja, es ist ein merkwürdiges Gefühl... Als ob man die Tochter verloren habe... Sie hat einen Landjäger im Thurgau geheiratet – meine Frau hat mir nach Paris telegraphiert, daß alles gut abgelaufen sei... Aber das hab ich Ihnen schon erzählt.«
»Gratuliere... Gratuliere noch einmal aufrichtig!...«
»Wozu gratulieren Sie mir?« sagte Studer ärgerlich. »Ich hab' doch mit der ganzen Sache nichts zu schaffen. Die Tochter hat ihr Kind, ich bin Großvater!... Gratulieren!« Er hob seine mächtigen Achseln. Das waren auch so ausländische Komplimente!
So ärgerlich war der Wachtmeister, daß er brüsk stehenblieb und fragte: »Hören Sie einmal zu, Herr Koller! Sind Sie verwandt mit dem ehemaligen Sekretär Ihres Bruders, der vor ein paar Monaten verschwunden ist und den die Pariser Polizei sucht...?«
»Ich... wie meinen Sie... verwandt? Mit wem verwandt?«
»Mit einem gewissen Jakob Koller, der seinerzeit Ihren Stiefbruder Cleman nach Marokko begleitet hat. Nachher hat er in Paris ein eigenes Geschäft aufgemacht, zu dem er die Marie gebraucht hat – als Sekretärin... Sekretärin!...«
Schweigen. Es schien, als habe der Wachtmeister auf seine Frage keine andere Antwort erwartet als Schweigen. Pater Matthias nahm lange Schritte, weitausholende; er drückte das Kinn auf die Brust und steckte die Hände tief in die Kuttenärmel, wie in einen Muff.
Die Sonne schien winterlich. Auf den Trottoirs lag ein wenig Reif als dünner, glitzernder Staub. Die beiden ungleichen Gefährten gingen über die Kirchenfeldbrücke, da blieb der Pater stehen, lehnte sich über das Geländer und blickte lange auf die Aare; ihr Wasser war hell, fast farblos. Die Bise wehte...
»Es ist alles so anders hier«, sagte Pater Matthias. »Auch schön, gewiß; aber ich habe Sehnsucht nach den roten Bergen und den weiten Ebenen.« Er sprach sehr ruhig. Studer stützte die Unterarme aufs Geländer und blickte in die Tiefe. Da wandte sich der
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