Die Fieberkurve
unter der Obhut seiner Frau... Der Pater war die Hauptperson, er war, wie Gisler sagte – der Kommissär hatte das Gymnasium besucht –, der »nervus rerum«, der Nerv der Dinge.
Und schleunigst wurde der junge Polizist im Vorraum angewiesen, sich in Zivil zu kleiden und die Wohnung des Wachtmeisters an der Thunstraße zu bewachen...
Also: den »Alten« überzeugen. Aber wie?
Die Luft im Raume war blau und dick, aber keiner der vier Männer dachte daran, ein Fenster zu öffnen. Sie starrten vor sich hin und studierten, studierten, wie man dem Kollegen Studer Ellbogenfreiheit verschaffen könne...
Was man wußte, genügte – aber es genügte nur für die drei Männer, die Studer überzeugt hatte. Drei Männer, die nicht viel zu sagen hatten: ein Kommissär von der Stadtpolizei, ein Fahnderkorporal und ein Gefreiter... Keine Männer, deren Stimmen im Hohen Rat etwas galten – bescheidene Arbeiter, nichts weiter, klug waren sie, das wohl, vertraut auch mit ihrem Beruf... Sonst nichts.
Es war Herr Rosenzweig, der die Lösung brachte. Er betrat das Bureau und prallte zurück:
»Die Fenster auf, der Lenz ist da!« sang er und mußte husten. Aber da keiner der vier Männer sich roden wollte, so mußte er eigenhändig das tun, wozu er melodisch aufgefordert hatte. Und ein Schwall staubgesättigter Stadtluft reinigte die Atmosphäre.
Nach einer Minute aber schon verlangte Kommissär Gisler, dessen empfindliche Füße die Kälte nicht vertragen konnten, man möge den »status quo« wieder herstellen und der kleine Reinhard schloß die Flügel.
»Ich habe«, sagte Herr Rosenzweig in seinem Bundesschweizerdeutsch, »bei Ihnen angeläutet, Wachtmeister, aber da hieß es, Sie seien fort und wahrscheinlich auf der Stadtpolizei zu finden. Ich bringe Ihnen etwas Merkwürdiges, sehr – sehr – Merkwürdiges.«
Murmann grunzte und meinte, das werde sicher etwas Apartiges sein. Aber Herr Altfürsprech Rosenzweig ignorierte den Fahnderkorporal Murmann. Er zog aus seiner Tasche zwei Blätter und legte sie sanft auf Studers Schenkel.
»Was sagen Sie dazu?« fragte er, und da keine Sitzgelegenheit mehr frei war, lehnte er sich gegen die Wand. Studer nahm die beiden Blätter auf – ein dickes, ein dünnes – und betrachtete sie. Das dickere war die Fieberkurve. Das andere war voll beschrieben, unterzeichnet. An der Ecke oben klebte eine Stempelmarke. Und Wachtmeister Studer überflog das Dokument. Dann hielt er es näher an seine Augen, las es zum zweitenmal, aufmerksamer, und es dauerte eine Weile, bis er mit dem Lesen fertig war.
Im Bureau war die Luft klar und durchsichtig. Durch das Fenster hörte man das Hupen vorüberfahrender Automobile und dazwischen von Zeit zu Zeit das langsame Klappen von Pferdehufen auf dem Asphalt. Sonst herrschte Stille. Kommissär Gisler beschäftigte sich mit einem Aktenumschlag, der kleine Reinhard hatte wieder eine Parisienne angezündet und Murmann stopfte umständlich seine Pfeife.
Aber alle drei hoben die Köpfe, als von der Stelle, an der Studer saß, ein merkwürdiges Geräusch kam, auf das am besten das gut bernische Wort »Grochsen« paßte: ein Tongemisch von Seufzen, Räuspern und verschlucktem Fluchen.
– Was los sei, erkundigte sich Kommissär Gisler und blickte erstaunt auf den Wachtmeister.
An der Wand aber lehnte der alte Rosenzweig, er ließ seine Zähne schimmern, die an vielen Orten mit Goldplomben geschmückt waren. Und nachdem er eine Zeitlang sein Lächeln hatte erstrahlen lassen, setzte er mit Fragen an, akademischen Fragen allerdings, auf die er keine Antwort zu erwarten schien...
»Das haben Sie nicht vermutet, Wachtmeister, hä? Das nenn' ich eine Sensation, hä? Das übertrifft die Photographie meines ersten Fingerabdruckes, von dem es keine Doublette gibt, was?«
Er schwieg. Die Spannung der Polizeileute machte ihm Spaß. Als aber keiner der vier reden wollte – sie waren Berner und verstanden es, ihre Spannung unter gleichgültigen Mienen zu verbergen – plapperte er weiter.
»Sie wollen natürlich wissen, wie ich zu dem Dokument gekommen bin, Wachtmeister Studer. Ganz einfach. Sie haben mich gebeten, nachzusehen, ob ich auf dem Papier etwaige Fingerabdrücke feststellen könne. – Es gibt zwei Methoden: Joddämpfe oder ultraviolette Strahlen. Ich habe es mit meinem neuesten Apparat probiert – und was sah ich? Nicht nur zwei Fingerabdrücke – sie ähnelten übrigens wieder dem Fingerabdruck, mit dem ich meine Sammlung begonnen habe – nein, ich
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