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Die Fieberkurve

Die Fieberkurve

Titel: Die Fieberkurve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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bezeichnen, die Bewegung nämlich, die Studer plötzlich machte. Ja, es war ein und dieselbe Bewegung, und sie bewies, daß Studer noch nicht reif für die Pensionierung war. Er schlug aus wie ein junges Füllen, nicht ganz, denn nur sein linker Fuß schnellte nach hinten, während zu gleicher Zeit seine Faust, die mäßig groß war, den Kieferknochen des Betrunkenen gerade unter dem linken Ohr traf. Der Betrunkene sackte ohne einen Laut zusammen, aber in seinem Rücken hörte Studer einen spitzen Schrei. Er wandte sich um. Auf dem Boden krümmte sich ein kleiner Mann, er hielt die Fäuste auf den Bauch gepreßt, und neben seiner rechten Hand lag ein Totschläger... Studer nickte. Gar nicht dumm ausgedacht. Der stattliche Betrunkene sollte die Aufmerksamkeit ablenken, mit Geschimpf und wüsten Reden, um dem Kumpan Zeit zu lassen, mit dem Totschläger zu operieren. Die beiden hatten nicht daran gedacht, daß ein Fahnder, wenn er tüchtig ist, ein Auge am Hinterkopf hat...
    »Gangster in Bern!« Es war ein ehrlicher Kummer in Studers Stimme. »Was glaubst du denn, Blaser? Du bist doch erst im Dezember aus dem großen Moos entlassen worden?« Damit meinte er die Strafanstalt Witzwil. Er kannte den Kleinen. Gewohnheitsdieb.
    »Was soll das heißen, Blaser? Bin ich nicht anständig mit dir gewesen, das letztemal? Hab' ich dir nicht einen Becher gezahlt? Hä? Was sind das für Manieren? Und dein Freund da!« Er beugte sich nieder zum stattlichen Betrunkenen. »Der Schlotterbeck! Jetzt aber hört doch alles auf!«
    Schlotterbeck: chronischer Alkoholiker, St.Johansen, Witzwil. Das letztemal zwei Jahre Thorberg wegen schwerer Körperverletzung... Wer hatte die Leute aufgereiset?
    »Also«, sagte Studer, nachdem der Alkoholiker Schlotterbeck sich mühsam auf sein Hinterteil gesetzt hatte. Er glotzte den Wachtmeister verständnislos an. »Warum habt ihr mich überfallen wollen?« Und er packte den kleinen Blaser mit einer Hand am Nacken, zog ihn in die Höhe und stellte ihn unsanft auf die Beine. »Red du!«
    Eine sonderbare Geschichte erzählten die beiden im Duett. Blasers heisere Stimme ergänzte die Erzählung des Alkoholikers Schlotterbeck, der im tiefen Brustton der gekränkten Unschuld sprach...
    Ein Mann sei heute mittag in den Witzwiler Wartsaal gekommen, so nannte sich eine Schnapsbeize in der inneren Stadt, der habe sich zu den beiden gesetzt und eine Runde spendiert. Dann habe er sich erkundigt, ob sie Kurasch hätten. Das hätten sie bejaht. Der Mann habe darauf gesagt, der Wachtmeister Studer trage in der Busentasche ein wertvolles Papier. Ob sie es holen wollten? Er zahle jedem fünfhundert. Hundert als Anzahlung...
    »Wir haben Euch abgepaßt, Wachtmeister... Aber Ihr habt nie das Tram genommen... Und da haben wir's hier probiert...«
    »Wann habt ihr den Mann getroffen?«
    »Um halb eins.«
    »Hat er einen blauen Regenmantel getragen?«
    Eifriges Nicken des erstaunten Blaser.
    »Wohin hättet ihr das Papier bringen sollen?«
    »Er hat uns eine Adresse gegeben...« Blaser suchte im Hosensack, brachte ein zerknülltes Papier zum Vorschein und reichte es dem Wachtmeister hin. Studer entzifferte:
    »30-7 Poste restante. Port-Vendres.«
    Port-Vendres? Wo lag Port-Vendres? Port hieß Hafen. Aber Häfen gab es viele, am Mittelmeer sowohl als auch am Atlantischen...
    Die beiden Attentäter standen ängstlich vor dem Wachtmeister. Er sah sie an. Sie trugen keine Mäntel und ihre Hände waren blau vor Kälte. Am liebsten hätte sie Studer zu einem heißen Grog eingeladen. Denn er war nicht nachtragend. Aber das ging nicht an. Was würde das Hedy sagen?
    So bat er die beiden nur, sich zum Teufel zu scheren.
    Und weiterstapfend schmunzelte er. Zwei Dinge freuten ihn an dieser Begegnung: erstens bewies der Überfall, daß die Fiebertabelle wirklich einen Wert hatte. Und zweitens waren in dem verkachelten Fall endlich einmal zwei waschechte Berner aufgetaucht. Daß es Vorbestrafte waren und daß sie ihn hatten niederschlagen wollen, tat der Freude keinen Abbruch.
    »Und, Hedy, wie hat dir der Pater gefallen?« fragte Studer seine Frau. Er saß neben dem grünen Kachelofen in einem bequemen Lehnstuhl, trug einen grauen Pyjama, und seine Füße steckten in Filzpantoffeln.
    »Ein lieber Mann«, sagte Frau Studer, die an einem Paar winziger weißer Hosen strickte. »Aber mich dünkt, er hat vor irgend etwas Angst. Ich hab' ihn die ganze Zeit beobachtet. Er hätt' dir gern etwas erzählt, aber die Kurasch hat ihm

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