Die Fieberkurve
offen: War der Hellseherkorporal identisch mit dem Geologen? Es sprach allerlei gegen eine solche Auffassung des Falles. Welchen Grund hätte der Geologe gehabt, zum zweitenmal seinen Namen zu wechseln und die Persönlichkeit des Sanitäters Collani anzunehmen? Und warum hatte der Schweizer Geologe mit dem gekräuselten Bart fünfzehn Jahre gewartet, um seiner Frau in Basel Nachricht zu geben?
Nahm man hingegen an, Pater Matthias sei der verstorbene Geologe Cleman, alias Koller Victor Alois, und Gast des Hotels zum Wilden Mann, dann kam Vernunft in das Ganze: Ein junger Philosophiestudent tötet seine Geliebte. Um den Nachstellungen durch die Polizei zu entgehen, ändert er seinen Namen, seine Nationalität, und unter dem fremden Namen Cleman erwirbt er von neuem das schweizerische Bürgerrecht. Unter dem neuen Namen, dem Namen Cleman, heiratet er: zuerst die Sophie in Bern. Aber der Tod der Ulrike Neumann bedrückt ihn. Er spricht mit seiner Frau darüber... Die Sophie ist nicht dumm – nun, da sie etwas weiß, benutzt sie dieses Wissen, um ihren Mann auszubeuten.
»Kannst du dir das vorstellen, Hedy?« fragte Studer, als er seine Mutmaßungen soweit ausgesponnen hatte. »Diese Ehe? Die Frau weiß, daß ihr Gatte ein Mörder ist. Sie verlangt Geld, denn der Koller-Cleman verdient gut. Sie hat ein eigenes Bankkonto. Und die Nächte? Kannst du dir die Nächte der beiden vorstellen? Du hast die Wohnung in der Gerechtigkeitsgasse nicht gesehen: das alte Haus, in dessen Mauern der Schimmel hockt. Und der Schimmel vergiftet die Seelen der beiden. Kein Wort darf der Alois Victor sagen, denn sobald er den Mund auftut, heißt es gleich: ›Schweig, du Mörder!‹ – Wie lange kann ein Mann eine solche Ehe aushalten? Ein Jahr? Zwei Jahre? In diese Ehe fallen die Reisen nach Marokko, der Kontrakt mit den Brüdern Mannesmann. Nur die Reisen sind daran schuld, daß die Ehe nicht früher geschieden worden ist. Du hättest die beiden Schwestern sehen sollen – ihre Bilder mein' ich. In der Wohnung an der Gerechtigkeitsgasse hat mir der Mönch heute früh die Jugendbilder der beiden Frauen gezeigt. Die Sophie – du kennst doch diese Art Weiber: hochgeschlossene Bluse, ein Stehkragen mit Stäbli, der das spitze Kinn trägt. Und die Augen! Mi hätt's tschudderet, und ich bin doch nicht apartig sensibel, wie die Welschen sagen.«
Studer schwieg. Seine Frau saß still am Tisch, ein Blatt lag vor ihr – die Fieberkurve. Frau Studer hatte schon lange aufgehört zu stricken. Sie nickte nur hin und wieder zu der Erzählung ihres Mannes.
Eine Turmuhr schlug – vier hellere Schläge, dann einen dumpfen. Ein Uhr. Andere Kirchen fielen ein, dazwischen klimperte das nahe Schulhaus eilig und oberflächlich – wie ein Schüler, der ein Versli herunterplappert. Und all die Töne prallten gegen die Fensterscheiben und waren ganz nah, bevor sie irgendwo, fern im dunklen Himmel, verhallten. Dann war die Stille im Zimmer noch tiefer.
»Scheidung...«, sagte Studer leise. »Der Mann hält die Ehe nicht mehr aus. Er sieht neben seiner Frau die Schwester Josepha. Gell, das kommt vor, Hedy? Daß nämlich zwei Schwestern so grundverschieden sind? Es ist doch manchmal so, daß die eine alle Güte für sich genommen hat und die andere alle Bosheit. Die Josepha war gut. Der Koller-Cleman heiratet die Josepha. Er ist glücklich. Die andere läßt es geschehen. Hat sie sich nicht bezahlen lassen?... Und dann kommt der Krieg. Der Geologe hat seine Tochter lieb – aber er muß Geld verdienen. Wahrscheinlich muß er immer noch für das Schweigen der Sophie zahlen, er kann der Josepha, der zweiten Frau, und seiner kleinen Tochter nicht das sorglose Leben bereiten, das er gern möchte. Da bietet sich eine Gelegenheit, auf eigene Faust zu schaffen. Die Gebrüder Mannesmann haben Verrat getrieben – Koller-Cleman denunziert sie. Nun darf er auf eigene Rechnung arbeiten. Und er tut dies auch. Er stellt das Vorkommen von Petroleum fest. Er hört von einem riesigen Projekt: eine große Linie soll von Oran durch die Wüste bis zu den französischen Kolonien in Äquatorialafrika führen. Für diese Linie wird man Brennstoff brauchen. Er kauft Land... All sein Erspartes steckt er in diese Spekulation. Und dann wird er krank, kommt ins Spital nach Fez...«
Ein Streichholz flammte auf – Studer zündete die erloschene Brissago wieder an.
»Zwei Möglichkeiten«, sagte er. »Während der Blattern-Epidemie in Fez gelingt es dem Koller-Cleman, sich die Papiere
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