Die Fieberkurve
gefehlt.«
»Ja«, sagte Studer und zündete die vierzehnte Brissago des Tages an. Er war hellwach und hatte beschlossen, die Nacht aufzubleiben. Nicht daß er gehofft hätte, aus dem ganzen Fall klug zu werden, dazu fehlten ihm die Schlüsselworte. Aber erstens wollte er auf das Telegramm von Madelin warten, und zweitens gedachte er mit seiner Frau über den Fall zu sprechen – richtiger: einen Monolog zu halten.
»Hast du ihn noch gesehen?« fragte Studer.
»Nein.«
»Warum nicht? Ist er dich nicht besuchen kommen?«
»Er hat den Genfer Zug genommen, um halb vier...« Studer blickte seine Frau nicht an. Auf seinen Knien lag die Fieberkurve und der Wachtmeister murmelte:
»Am 15.Juli morgens 36,5, abends 38,25; am 16.Juli morgens 38,75, abends 37... Wir hätten also zu Anfang die Zahlen 3653825387537... Hat die Drei etwas zu bedeuten?«
»Wa machschst, Köbu?« fragte Frau Studer.
»Nüt«, brummte Studer. Und fuhr fort: »Man könnt's in Brüchen schreiben: 36½, 38¼, 38¾... Himmel...«
»Fluech nid, Köbu«, sagte Frau Studer sanft.
Aber Studer war wild. Er werde wohl noch daheim fluchen dürfen, wenn es ihm darum sei; das lasse er sich von niemandem verbieten...
– Das Jakobli sei bsunderbar e g'schyts Büebli, lenkte die Frau ab; es werde dem Ätti gleichen.
Studer blickte auf, denn das Hedy hatte es faustdick hinter den Ohren... Wollte es sich über ihn lustig machen? Aber Frau Studer saß am Tisch, die Lampe schüttete viel Glanz über ihre Haare... Jung sah sie aus.
»Los einisch, Frou«, sagte Studer und räusperte sich. Ob er schon von der Marie Cleman erzählt habe?
Frau Studer beugte sich tiefer über ihre Arbeit; ihr Mann sollte das Lächeln nicht sehen, das sie nicht unterdrücken konnte. Dreimal hatte der Jakob diese Frage schon gestellt, dreimal in einer Stunde. Diese Marie Cleman schien den Mann arg zu beschäftigen. Der Jakob! Da war voriges Jahr auch so ein Fall gewesen, in dem ein Meitschi eine Rolle gespielt hatte, ein Meitschi, das mit einem entlassenen Sträfling verlobt gewesen war. Und der Jakob hatte natürlich eine Brustfellentzündung erwischt, weil er in strömendem Regen mit dem Meitschi Töff gefahren war. Ganz zu schweigen von dem Autounfall, der den Fall abgeschlossen hatte. Und warum hatte der Jakob sein Leben, seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt? Um die Unschuld des entlassenen Sträflings zu beweisen. So war der Jakob, dagegen war nichts zu machen. Und die Bankaffäre? Und der Fall im Irrenhaus? Hatten dort nicht auch Weiber den Ausschlag gegeben? Manchmal schien es Frau Hedwig Studer, als lebe in dem massigen Körper ihres Mannes die Seele eines mittelalterlichen Ritters, der gegen Drachen, Tod und Teufel kämpfte, um die Unschuld zu verteidigen. Ohne Dank zu begehren. Und da war nun diese Marie Cleman...
»Nei, Vatti«, sagte Frau Studer sanft. Was denn mit der Marie los sei?
– Man solle ihn nicht Vatti nennen, brauste Studer auf. Er war überreizt. Ein langer Tag lag hinter ihm, viel war an diesem Tag geschehen, es war begreiflich, daß ihm die Geduld riß – und Frau Studer verstand dies auch.
»Nämlich die Marie...«, sagte Studer und tippte mit dem Strohhalm, der seiner Brissago entragte, auf das Temperaturblatt, »paßt nicht in den Fall. Sie ist damals mit dem ehemaligen Sekretär ihres Vaters nach Paris geflohen – begryfscht, Hedy? – weil die Mutter eine Kartenschlägerin war. Und dann hat der Koller Konkurs gemacht. Koller! Alle heißen Koller in dieser Geschichte...« Er schwieg, kreuzte die Beine, die Fieberkurve flatterte zu Boden und blieb neben Frau Studers Stuhl liegen. 's Hedy hob das Blatt auf.
Studer erzählte. Und während der Erzählung schien es ihm, als käme Ordnung in das Chaos. Die verschiedenen Koller nahmen Gestalt an: Pater Matthias und jener andere, der Philosophiestudent, der sich mit Ulrike Neumann im Hotel zum Wilden Mann getroffen hatte, damals, im Jahre 1903... Und der dritte Koller, Jakob mit Vornamen, der mit dem Geologen nach Marokko gefahren war – als Sekretär... Sehr verständlich war, daß der zweite Koller, mit Vornamen Alois Victor, seinen Namen geändert hatte. Er hatte sich vor einer Entdeckung gefürchtet; war sein Gewissen nicht belastet mit dem Tod der Ulrike Neumann?
Studers Gehirn arbeitete mühelos. Pater Matthias hatte zugegeben, daß der Geologe sein Bruder gewesen war – sein Stiefbruder hatte er gesagt; Stief- oder nicht, Pater Matthias hatte die Verwandtschaft zugegeben.
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