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Die Fieberkurve

Die Fieberkurve

Titel: Die Fieberkurve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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Schulter seiner Frau. Sie hatte den weißen Bogen auf den Tisch gelegt und mit vier Gufen die Fieberkurve darauf festgeheftet, so zwar, daß das Blatt mit der Schmalseite nach unten lag und die Striche, welche die Temperaturunterschiede darstellten, senkrecht verliefen. Dann hatte sie jeden dieser Temperaturstriche über die Fieberkurve hinaus mit einem Lineal verlängert und das Ende jedes verlängerten Striches mit einem Buchstaben versehen. So stand am Ende des Striches, der die Temperatur 35,5 angab, der Buchstabe A; das B war der Zwischenraum zwischen 35,5 und 36, während 36 selber C bedeutete. Nun begann sie, die auf der Fieberkurve angegebenen Morgen- und Abendtemperaturen des Cleman, Alois Victor, in Buchstaben zu übersetzen. Am 12. Juli war die Morgentemperatur 36,5 gewesen – Frau Studer schrieb E; abends war 38,2 5 vermerkt – Frau Studer schrieb M. Am 13. Juli 38,75; Frau Studer schrieb O. Und endlich entstand folgende Reihe.
    E M O Q H Z I T F I Z O Z H H M Q M I Q V R X S V O Z N N U V P H V N I M G
    Studer starrte auf die Buchstabenreihe. Etwas an ihr kam ihm bekannt vor. Sein Ellbogen lag auf der Schulter seiner Frau.
    »Jakob!« stöhnte Frau Studer. Er tue sie ja plattdrücken!
    Aber Studer war stumm gegen solche Klage. Das... das war... das war die primitivste Geheimschrift, die es gab!... Das umgekehrte Alphabet.
    »Steh auf!« kommandierte er. Lächelnd machte Frau Studer Platz.
    Und unter die großen, ein wenig unbehilflichen Buchstaben seiner Frau schrieb Studer in seiner winzigen Schrift, die viel Ähnlichkeit mit dem Griechischen hatte:
    V O M K S A R G U R A M A S S O K O R K E I C H E M A N N F E L S E N R O T
    Und wiederholte leise:
    »Vom Ksar Gurama SSO Korkeiche Mann Felsen rot...«
    Schweigen. Frau Studer hatte den Unterarm auf ihres Mannes Achsel gelegt, sie las die Worte vom Papier ab und fragte:
    »sso? Was heißt das?«
    »Südsüdost. Die Himmelsrichtung. Und Ksar? Das wird wohl der Name für ein Dorf sein. Äbe: Das arabische Wort für Dorf.«
    –Ja ja, der Köbu syg ganz en G'schyter.
    Studer blickte auf. War das wieder einmal Hohn? Aber diesmal war man gegen den Hohn gewappnet. Man erwiderte dem Hedy, die G'schytheit vo der Frou habe auf den Mann abgefärbt. Und durfte es erleben, daß das Hedy rot wurde.
    Dann nahm Wachtmeister Studer wieder auf dem Stuhle Platz, der neben dem grünen Ofen stand, dem Sternsdonner, der nie ziehen wollte; er hielt die Fieberkurve und ihre Übersetzung in der Hand und konnte sich nicht satt sehen an dem Dokument. Aber egoistisch, wie Männer sind, vergaß er sogleich den Anteil, den seine Frau an der Entzifferung des Kryptogramms genommen hatte.
    »Hab' ich dir schon von der Marie Cleman erzählt?« fragte Studer. Da lachte die Frau, daß ihr die Tränen in die Augen traten; sie konnte sich nicht beruhigen, auch nicht, als der Wachtmeister ärgerlich fragte:
    »Was häscht?«
    »Nüt... nüt!« Frau Studer schluchzte fast. »Gib mir eine Zigarette!« sagte sie, als sie wieder zu Atem kam. Und wie die Marie Cleman zog das Hedy den Rauch tief in die Lungen.
    »Du gleichst ihr«, sagte Studer.
    »So, so...« Und ob der Wachtmeister in das Meitschi verschossen sei, wollte Frau Studer wissen.
    Verschossen? Chabis! Studer war rot geworden. Nein, er war nicht verliebt. Er mochte die Marie Cleman gern, gewiß, aber wie eine Tochter, und er machte sich Sorgen um ihr Wohlergehen. Warum hatte sie ihm heut abend angeläutet? Vom Bahnhof Basel? War sie am Verreisen?
    In Studers Wohnung war das Telephon im Schlafzimmer angebracht. Das war eine Notwendigkeit, die der Beruf erforderte. Wie oft hatte die Klingel mitten in der Nacht geschellt! Dann hatte man aufstehen und stundenlang in der Kälte ein Haus bewachen müssen... Studer ging in das Schlafzimmer. Er suchte im Telephonbuch nach der Nummer der Cleman-Hornuss, Josepha, Witwe... Da... Es stimmte: Spalenberg 12.
    Es ging gute fünf Minuten, bis er die Verbindung hatte. Und dann hörte er das eintönige Summen, das wie ein leiser Ruf tönte, aufstieg, verhallte, wieder begann. Und Studer glaubte die leere Wohnung zu sehen, die winzige Küche, die nur ein Durchgangskorridor war, und die vergilbten Emailbehälter auf der schiefen Etagère: »Mehl«, »Salz«, »Kaffee«...
    Ganz langsam legte er den Hörer ab, zog das Schnupftuch unter seinem Kissen hervor und schneuzte sich; es dröhnte durch die Wohnung. Und dann läutete die Klingel im Flur...
    Telegramm:
»Sûretè Paris Inspektor Studer Thunstraße

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