Die Fieberkurve
ihn wenig, die Kutte nahm den gleichen Weg. Und dann tat Wachtmeister Studer – alias Inspektor Fouché – etwas, was er seit den Knabentagen nicht mehr getan hatte. Er begann seine Hemdärmel aufzukrempeln.
Und nahm Kampfstellung an.
Er war untrainiert, das wußte er. Aber er hatte schon andere Leute gebodigt als solch einen kleinen französischen Offizier, der nicht einmal die Abzeichen seines Grades trug.
Plötzlich lachte der Mann; es war ein angenehmes Lachen.
»Verzeihen Sie, Inspektor. Ich bin heute schlechter Laune. Sie haben mir Ihren Paß gezeigt. Inspektor Fouché, nicht wahr? Von der Sûreté in Lyon? Ich bin selbst aus Lyon. Ich erinnere mich gut an Ihren Namen, er wurde zu meiner Zeit oft genannt. Aber man hat Sie doch tot gesagt? Sind Sie nicht in einer Rafle erschossen worden? Scheint nicht, da Sie heut vor mir stehen. Vorwärts, vorwärts, ziehen Sie Ihren Rock wieder an, den Mantel auch. Sonst erwischen Sie eine Lungenentzündung. Und ich habe schon genug Kranke im Posten. Kommen Sie lieber etwas trinken.«
Eine richtige schottische Dusche! Eiskalt war es Studer geworden, als der Mann erklärt hatte, er stamme aus Lyon. Und siedendheiß, gleich darauf, als er zu einem Trunke eingeladen worden war. Aber sein Gesicht blieb ausdruckslos, als er sagte:
»Soso? Aus Lyon? Man hatte mir gesagt, Sie stammten aus dem Jura und seien ein Lands – hmhm... ein halber Schweizer... Aus Lyon, soso?«
»Teils – teils«, sagte Capitaine Lartigue. »Meine Eltern stammten aus St. Immer, aber mein Vater hat in Lyon eine Uhrenfabrik gegründet. Doch ich war manchmal in der Schweiz. Und jetzt bin ich hier... Aber Sie werden hungrig sein. Kommen Sie mit!«
Höfe, die von Baracken umsäumt waren... Wellblechdächer, die so glatt waren, daß sie die Sonnenstrahlen zurückwarfen, wie riesige Spiegel. Männer in blauen Leinenanzügen schlichen herum, führten lässig eine Hand an die Stirn – man wußte nicht, war es ein militärischer Gruß oder ein freundschaftliches Winken.
Einer dieser Männer trat dem Capitaine in den Weg und sagte, ohne Achtungstellung anzunehmen: »Ich hab' nämlich Fieber!«
Studers Begleiter blieb stehen, ergriff das Handgelenk des Mannes, ließ es nach einer Weile los, dachte nach und klopfte dann dem Wartenden auf die Schulter:
»Leg dich nieder, mein Kleiner, ich schick' dir dann die Schwester...«
Dem Wachtmeister Studer gab das Wort »Schwester« einen Ruck. Sollte... sollte... Aber er vertrieb den Gedanken mit jener Bewegung, die ihm eigen war: seine Hand verscheuchte unsichtbare Mücken von seinem Gesicht.
Capitaine Lartigue ging weiter. Studer starrte ihn von der Seite an; was war das für ein Mann? Seine Stimme konnte sanft sein, wie die einer Mutter.
»Wir haben viel Sumpffieber im Posten«, sagte der Capitaine traurig. »Die Gegend ist ungesund. Manchmal liegt die halbe Kompagnie auf dem Rücken... Es ist nicht die gewöhnliche Form der Malaria... Chinin wirkt kaum... Es ist ein Elend. Wenn wir nicht eine Pflegerin vom Roten Kreuz hätten, die uns der Resident aus Fez geschickt hat...«
Studer atmete auf. Marie war keine Pflegerin, sie war Stenotypistin. Aber... Es gab ein Aber. Wenn es einem Berner Fahnder gelungen war, die Persönlichkeit eines französischen Polizeiinspektors anzunehmen, warum hätte es Marie nicht gelingen sollen, sich in eine RotKreuz-Schwester zu verwandeln?«
»Ist die Schwester«, fragte Studer, und er konnte es nicht verhindern, daß seine Stimme ein wenig zitterte, »ist die Schwester, die Sie sich verschrieben haben, mein Capitaine, auch tüchtig?«
Ein Blick streifte Studer – und der Blick war ungemütlich.
»Sehr tüchtig«, sagte Capitaine Lartigue trocken. »Aber was führt Sie eigentlich in meinen verlassenen Posten, Herr Inspektor Fouché?«
Der Blick... Die Betonung seines falschen Namens... Nur gut, daß das Béret die Stirn bedeckte, so sah man die Schweißtropfen nicht!...
»Es ist eine lange Geschichte«, sagte der Berner Wachtmeister.
»Das sind nicht immer die schönsten«, meinte der Capitaine. »Ich ziehe Kurzgeschichten vor.«
Schweigend gingen sie weiter. Mitten im Posten erhob sich ein Gebäude, das aussah wie ein sehr breiter Turm. An seiner Außenmauer klebte eine Hühnerleiter.
»Ich zeige Ihnen den Weg, Herr Inspektor Fouché, Herr Inspektor Jakob Fouché, nicht wahr?«
»Nein, Joseph, Joseph Fouché.«
»Ganz richtig, Joseph. Ein kleiner Irrtum. Ich gehe also voraus, Herr Inspektor Joseph Fouché. So ist der
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