Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Fieberkurve

Die Fieberkurve

Titel: Die Fieberkurve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
Vom Netzwerk:
besser so!‹ Zwei Monate später, am 28. September, ist ein Fremder zu mir gekommen und hat nach dem Korporal Collani gefragt. Er hat gewartet – aber an diesem Abend ist der Korporal spät gekommen. Er hat den Fremden nicht beachtet, sondern nur zu mir gesagt: ›Jetzt weiß ich, wo die Kopie ist. Ich hatte sie in das Futter einer alten Wollweste eingenäht. Ganz deutlich sah ich's gerade.‹ – ›Wo warst du bist jetzt, Korporal?‹ fragte ich. – ›Beim Priester‹, antwortete er. Und dann erblickte er den Fremden...« Achmed schwieg. Er blickte mit seinen braunen Augen, so dunkel waren sie, daß sie fast schwarz wirkten, treuherzig zu Studer auf, der neben der pfeifenden Azetylenlampe an der Wand lehnte...
    Es gab also eine Kopie der Fieberkurve!... Wo war diese Kopie zu suchen? Und wenn sie in den Händen der »Widersacher«, um den rätselhaften Leuten, mit denen man es zu tun hatte, einen Namen zu geben, wenn sie also in den Händen der Widersacher war – wo mußte man sie suchen? Und wenn die Widersacher die Kurve hatten, warum hatten sie dann zwei Berner Gangster auf den Wachtmeister gehetzt, um ihm das Dokument zu stehlen?
    Plötzlich war es Studer, als schnappe in seinem Kopfe etwas ein – es war ein merkwürdiges Gefühl. Ein Zahnrad dreht sich neben einem anderen, das still steht. Ein Hebel wird umgestellt – die Zähne des rotierenden Rades greifen in die Zähne des ruhenden – nun drehen beide sich... Dieses Einschnappen vollzog sich, weil der Berner Wachtmeister plötzlich die beiden Karten sah, die in Bern sowohl als auch in Basel in der obersten Reihe des ausgelegten Spieles lagen: der Schaufelbauer! der Pique-Bube! Schaufeln – die Unglücksfarbe. Der Schaufelbauer – der Tod. Merkwürdig, dachte Studer, wie unser Gedächtnis manchmal funktioniert: wir speichern Bilder auf und vergessen sie wieder – und plötzlich taucht solch ein vergessenes Bild aus der Versenkung auf, ist entwickelt, kopiert – ganz scharf...
    Mit gekreuzten Beinen saß Achmed in seiner Ecke und stieß Rauchwolken aus. Und so vertieft war Wachtmeister Studer in seine Gedanken, daß er gar nicht merkte, wie er selbst sich zu Boden gleiten ließ, – aber es gelang ihm nicht, kunstgerecht auf seine eigenen Absätze zu hocken. Er streckte die Hand aus – denn er war zu sehr mit seinen Überlegungen beschäftigt, um selbst eine Pfeife zu stopfen – er streckte die Hand aus und dann zog er träumend an einem Mundstück, atmete den Rauch tief in die Lungen ein und stieß ihn wieder von sich. »Noch eine«, murmelte er.
    »Bruder«, belehrte ihn Achmed, »du mußt sagen: Amr sbsi – das heißt: füll mir die Pfeife...«
    Und gehorsam wiederholte Studer: »Amr sbsi!«
    Der Rauch kratzte ein wenig im Schlund, aber im Kopfe begann es farbig auszusehen.
    »Amr sbsi...« Achmed lächelte. Er hatte breite Zähne. Weiß war das Licht der Azetylenlampe im gekalkten Zimmer. Aber wenn man durch die Wimpern blinzelte, dann tanzten alle Regenbogenfarben Gavotte.
    »Mlech?« fragte Achmed. Studer nickte. Es kam ihm vor, als spreche er ausgezeichnet Arabisch, »Mlech« – das hieß natürlich: »Gut.« Eifrig nickte der Wachtmeister und wiederholte: »Mlech, mlech!«
    Einen Augenblick wurde er wieder nüchtern und versuchte sich auf das Datum des heutigen Tages zu besinnen. Er wollte diese Frage auf arabisch stellen, aber da war ihm der heimatliche Dialekt im Wege; doch auch dieser wollte nicht über seine Lippen. Es wurde ein brummendes Gestammel aus der Frage, obwohl Studer überzeugt war, sie sehr klar gestellt zu haben.
    Achmeds Gesicht drückte lächelndes Erstaunen aus. Und dann machte Achmed drei Gesten, die Studers westeuropäische Einstellung zur Zeit in ihren Grundfesten erschütterte. Ein Vorstrecken der flachen Hände, ein Heben der Arme und die Hände fielen zurück auf die Knie, dann hob sich die Rechte mit aufgerecktem Zeigefinger, während die übrigen Finger sich zur Faust schlossen; der aufgereckte Zeigefinger aber legte sich auf den Mund und nachher deutete er gen Himmel...
    Und so ausdrucksvoll waren diese Bewegungen, daß Studer sie mühelos übersetzte:
    »Mensch! Bruder! Wie willst du die Zeit halten in deinen offenen Händen, verzweifeln mußt du, wenn du an die Ewigkeit denkst... Er aber, der dort oben thront, der Ewig-Schweigende, was kümmert Er sich um die Zeit, Er, dem die Ewigkeit gehört?«
    Der Wachtmeister dachte dunkel, nun, da er diese Bewegungen gesehen und verstanden hatte, würde er unfähig

Weitere Kostenlose Bücher