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Die Fieberkurve

Die Fieberkurve

Titel: Die Fieberkurve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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internationale Recht... Die Schritte, die unser Gesandter in Paris im Auftrag unserer hohen Bundesbehörde unternommen hat, sind leider erfolglos geblieben. Der Bundesrat hat in seiner Sitzung vom 2. Februar beschlossen, eine Kommission zu wählen, die die Schritte untersuchen wird, die in dieser betrüblichen Angelegenheit getan werden können. Die Kommission wird sich in den nächsten Wochen konstituieren und vorerst einen Ausschuß wählen, der einen bekannten Kenner des Internationalen Rechtes beauftragen wird, diesen traurigen Fall auf all seine Möglichkeiten hin zu prüfen. Wie wir in letzter Stunde vernehmen, ist die Kommission bereit, eine Subkommission mit den ersten Ermittlungen zu betrauen. Man hofft, daß die leidige Angelegenheit noch im nächsten Jahre eine Erledigung finden wird...«
    So ging es – und gegen Kommissionen konnte man nichts unternehmen. Aber vielleicht war eine Kommission gar nicht nötig? Vielleicht war eine Rettung gar nicht ferne?
    Ganz hinten am Horizont tauchte ein Punkt auf. Winzig klein war er. Studer zog seinen Feldstecher aus der Tasche. Ein Maultier! Und auf dem Maultier ein weißer Fleck. Vielleicht brachte der weiße Fleck Rettung.
    Unter diesen Gedanken war Studer im Posten angelangt. Still lag er da, unter den Sonnenstrahlen, die ihn schief trafen. Der Abend war nahe. Neben dem Wachtposten sah der Wachtmeister zwei dicke Bohlentüren – offenbar die beiden Gefängniszellen. Vielleicht schlief diese Nacht ein Berner Fahnder hinter einer dieser Türen?
    Studer gab den Spaten zurück. Dann stieg er wieder die Hühnerleiter hinauf, klopfte. Da keine Antwort erfolgte, trat er ein. Auf einem Diwan, in einer Ecke des Raumes, lag Capitaine Lartigue und schlief. Zwischen der Wand und seinem Körper lagen die Gazelle und der schottische Terrier friedlich nebeneinander. Beide blinzelten den Wachtmeister verschlafen an – der Hund hob einen Augenblick den Kopf und legte ihn dann wieder zurück auf seine gestreckten Vorderpfoten. Studer schlich sich zu einem Lehnsessel, setzte sich, nahm ein aufgeschlagenes Buch, das auf dem Tischchen lag und begann zu lesen. Es waren Verse, französische Verse von traurigem Wohllaut. Und sie paßten zu Studers Stimmung. Wahrscheinlich hatte sie ein Gefangener geschrieben...
    Der Himmel überm Dach
ist still und leise.
Ein Baum überm Dach
zieht seine Kreise...
    Dem Wachtmeister Studer gingen die Augen über und er schlief ein...
    Der gemeinsame Schlaf aber legte um diese vier Geschöpfe ein unsichtbares Band. Als sie nach einigen Stunden erwachten, schienen sie erfreut, beieinander zu sein.
    Der Capitaine sagte: »Auch ein Schläfchen getan, Inspektor?« – »Wie wäre es mit einem Wermut, mein Capitaine?« fragte Studer zurück. Die Gazelle und der Hund spielten Fangis im Zimmer, immer rund um den Lehnstuhl des Wachtmeisters; dann blieben die Tiere plötzlich stehen und blickten Studer freundlich an. Die Gazelle hatte feuchte Augen, wie ein verliebtes Frauenzimmer, und der Hund ähnelte einem uralten Neger. Es war sehr gemütlich in dem Turmzimmer.
    Und draußen war der Abend kühl und rot wie Himbeereis. Durch die offene Terrassentür wehte ein kleiner Wind. Zwischen Wolken, die aussahen wie Klumpen von Brombeergelee, standen ein paar Sterne, rund und weiß und glänzend wie geschälte Haselnüsse. Ein wenig später kam der Mond, der dieser Zuckerbäckerherrlichkeit ein Ende bereitete. Er kam und war weiß und groß; das Licht, das er über die Baracken und Höfe legte, gemahnte an riesige Leintücher, die von der Bleiche kommen. Ein Horn klagte wieder, es war ein Signal, mit Trillern, Koloraturen – und wie ein großer italienischer Sänger hielt es die vorletzte Note lange aus, so lange, daß man mit Bangen die Rückkehr zum Grundton erwartete... Und kaum war der Grundton verhallt, begann gedämpft ein Lied... Es paßte zum Abend, zu der Ebene und zum klaren Lichte des Mondes. Manchmal hob sich eine hohe Männerstimme ab vom Chore, der im Basse die Begleitung brummte...
    »Die Russen singen«, sagte der Capitaine leise. Studer hörte andächtig zu. Dies alles war auf eine noch nie erlebte Art ergreifend, so etwas gab es nicht daheim... Das also war die Legion, die Fremdenlegion: ein Lied vom großen Traum, dem Traum von Pferden, Bergen, Ebenen und Meer...
    Immer noch lag Lartigue auf dem Diwan, die Hände im Nacken verschränkt, und atmete die Lieder ein wie einen starken Duft... Plötzlich brach der Gesang ab. Der Capitaine sprang

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