Die Fieberkurve
sein, jemals wieder seine Tätigkeit an der Berner Fahndungspolizei aufzunehmen. Er sah sich am Morgen aufstehen, sich rasieren... In der Wohnung duftete es nach Kaffee. Schon halb acht. Um acht mußte er im Amtshaus sein, auf seinem Bureau... Aber was ist das? Zwei Hände breiten sich flach aus, ein Zeigefinger reckt sich gen Himmel... Ins Bureau? Wozu? Das Amtshaus, der Dienst, die Segnungen der westlichen Kultur: Betriebsamkeit, Arbeit nach der Uhr, Dienstzeit, der Lohn am Monatsende, wo waren sie geblieben? Wozu dies alles? Um Allahs willen, wozu?... Man versank im Meere der Ewigkeit, man starb. Was nützte alles Tun? Warum nahm man sich so wichtig, reiste mit falschen Pässen, suchte nach verschwundenen Leuten, wollte einen Schatz heben? Nur ein winziger Tropfen war man doch im Nebelschwaden der Menschheit – und verdunstete...
Immer noch saß der Mulatte dem Wachtmeister gegenüber, und sein Gesicht sah aus wie das ewig junge Antlitz eines fremden Gottes...
»Amr sbsi!... Füll mir die Pfeife!«
Die Pfeife, die winzige, fingerhutgroße Tonpfeife wurde gefüllt, und neben dem Wachtmeister stand plötzlich eine Tasse, der edle Wohlgerüche entströmten. Aber Studer war nicht mehr fähig, festzustellen, daß dieser himmlische Trank ganz einfacher Tee war, in dem ein paar Minzenblätter schwammen. Er trank, trank...
Woher kam die Musik? Ein toller Tanz stampfte vor seinen Ohren, und er sah Frauen, die ihre Fußspitzen weit über ihren Kopf schleuderten. Dann roch es nach Rosen, nach vielen gelben Rosen, der Wachtmeister legte sich ins feuchte Moos, rings um ihn breitete ein Garten sich aus – der duftete nach Erde und Gewitterregen. Noch einmal wurde ihm die Pfeife in die Hand gedrückt; nun drehten sich Sterne vor seinen Augen und beschrieben riesige Kreise... Und die Musik? Die Musik, die ertönte?
Sie klang, als werde der Bernermarsch von himmlischen Heerscharen gespielt...
... Später sollte Studer noch oft, etwa beim Billardspielen dem Notar Münch, die Wonnen des Haschischrausches schildern; aber meist gingen ihm nach einiger Zeit die Eigenschaftswörter aus und er endete dann mit dem stärksten Superlativ, der ihm zur Verfügung stand:
»Suber!« sagte er. »Cheibe suber isch es gsy!«...
Achmed, der Mulatte, lächelte. Er breitete zwei Pferdedecken auf dem Boden aus, nahm Studer auf die Arme – die achtundneunzig Kilo des Wachtmeisters störten ihn wenig – bettete ihn sorgfältig auf die warme Unterlage und deckte ihn zu. So schlief denn der Berner Fahnder in einem ärmlichen Raum, weit weg von der Bundeshauptstadt, in einem verlorenen Kaff, das vielleicht gar nicht auf der Karte zu finden war, den schönsten Schlaf seines Lebens, den buntesten auch, der angefüllt war bis zum Rand mit Tönen und Düften...
Aber er mußte dieses Geschenk mit einem Katzenjammer bezahlen, der ihn am Tage seines Rückrittes nach Bouk-Toub viel Dankbarkeit empfinden ließ für das Verständnis seines Maultieres Friedel. Dieses setzte seine winzigen Hufe mit aller gebotenen Vorsicht auf den gefrorenen Boden, so, als wisse es um die schauerliche Migräne, die seinen Reiter plagte... Man mußte es eben bezahlen, wenn einem die Engel »Träm, träm, träm deridi...« vorspielten...
Da redet man so viel von der Wüste, von ihrer Unendlichkeit, von dem Schauer, der von ihr ausgeht... Studer wurde in Colom-Béchar schwer enttäuscht. Viel gelber Sand, jawohl, aber in dem Sand wuchsen merkwürdige Pflanzen: Blechbüchsen, die Sardinen, Thon, Corned-Beef enthalten hatten und mit ihren gezackten Deckeln an unwahrscheinliche Kakteen erinnerten. Der Horizont war verhangen, die Dattelpalmen gemahnten mit ihrer giftiggrünen Farbe an schlecht kolorierte Postkarten – und außerdem war es kalt, ganz unverschämt kalt. Studer fühlte sich betrogen... Natürlich war sein Zimmer ungeheizt, man stellte ihm ein offenes Kohlenbecken hinein, was gegen alle Verordnungen der Sanitätsdirektion verstieß. Denn glühende Kohlen sondern bekanntlich Kohlenoxyd ab und das ist ein giftiges Gas.
Zum Glück erteilte der Platzkommandant von Colom-Béchar dem Herrn Inspektor Fouché die Erlaubnis zur Weiterreise – am nächsten Tag. Richtiger in der übernächsten Nacht. Fünf Saurer-Camions fuhren über Bou-Denib, Gurama nach Midelt. Und dann fragte der Wachtmeister den Platzkommandanten, es war ein Kommandant und genau so dick wie Borotra, in Géryville, ob ein gewisser Korporal Collani sich auf der Durchreise hier gemeldet habe.
»Denken
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