Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
überragende Art, die ihn größer aussehen ließ, als er war; außerdem fällte er seine Urteile über Menschen und Geschehnisse mit solcher Selbstgewissheit, dass er sie auszuspucken schien. Sag’s, aber spuck’s nicht, riet ihm manch ein Junge, riskierte damit aber sein Leben. Falls alle Juden so aussahen, dachte Treslove, sollten sie besser Finkler heißen, was ja fast wie Sprinkler klang. Und so nannte er sie dann für sich auch die Finkler.
Er hätte es gern seinem Freund gesagt. Das, dachte er, würde sie von ihrem Stigma befreien. Redete man über die Finkler-Frage oder über die finklerische Verschwörung, entzog man dem Ganzen das Gift. Nur kam er nie dazu, Finkler davon zu erzählen.
Sie waren beide die Söhne aufstrebender Ladenbesitzer. Tresloves Vater verkaufte Zigarren und andere Rauchwaren, Finklers Arzneimittel. Sam Finklers Vater war dafür bekannt, dass er ein Medikament zubereiten konnte, das Kranke noch am Tor des Todes wiederbelebte. Nahmen seine Kunden die Arznei ein, wuchs ihnen aufs Neue das Haar, sie streckten den Rücken, der Bizeps schwoll wieder an. Finkler senior war selbst ein wandelndes Miraculum, ein ehemaliger Magenkrebspatient, der zum lebenden Beweis für die Wirkkraft seiner Medikamente geworden war. Ganz egal, mit welchen Beschwerden die Kunden zu ihm in die Apotheke kamen, stets forderte er sie auf, ihm in den Bauch zu boxen. Genau dahin, wo der Krebs gesessen hatte. »Fester«, sagte er. »Schlagen Sie fester zu. Ach nein, zu lasch, ich spüre ja nichts.«
Wenn sie dann seine Widerstandskraft bestaunten, zückte er die Tablettenschachtel. »Drei am Tag, jeweils zu den Mahlzeiten, und Sie leiden nie wieder Schmerzen.«
Trotz dieser zirkusreifen Faxen war er ein religiöser Mann, der einen schwarzen Filzhut trug, eifriges Mitglied der Synagoge war und Gott anflehte, sein Leben zu erhalten.
Julian Treslove wusste, auf diese finklerische Weise konnte er nicht clever sein. Kennt Jud einen Jud nich? Das wäre ihm nie eingefallen. Sein Hirn funktionierte bei anderer Temperatur. Er brauchte länger, um zu einer Entscheidung zu finden, und kaum hatte er sich entschieden, wollte er seine Meinung oft auch schon wieder ändern. Trotzdem war er, wie er fand – und das vielleicht aus ebendiesem Grund – von ihnen beiden derjenige mit der kühneren Fantasie. Manchmal trug er morgens seine nächtlichen Träume zur Schule wie ein Akrobat, der eine menschliche Pyramide auf den Schultern balanciert. Meist wurde er in riesigen, widerhallenden Räumen allein gelassen, stand an leeren Gräbern oder sah brennende Gebäude. »Was glaubst du, was das zu bedeuten hat?«, fragte er dann seinen Freund. »Keinen Schimmer«, lautete unweigerlich Finklers Antwort. Als gäbe es für ihn Wichtigeres, worüber es nachzudenken lohnte. Finkler träumte nie. Manchmal kam es Treslove so vor, als würde Finkler aus Prinzip nicht träumen.
Falls er nicht einfach nur zu groß zum Träumen war.
Deshalb musste Treslove selbst herausfinden, worum es in seinen Träumen ging. Sie handelten davon, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Oder vom Zuspätkommen, falls er nicht gerade zu früh kam. Oder davon, dass er wartete, bis die Axt niedersauste, eine Bombe fiel, sein Herz einer gefährlichen Frau in die Finger geriet. Julie, Judith, Juno …
Huno.
Er träumte auch, dass er Sachen verlegte und nicht wiederfinden konnte, obwohl er sie an den unwahrscheinlichsten Stellen verzweifelt suchte – hinter Fußbodenleisten, in der Violine seines Vaters, sogar zwischen Buchdeckeln, auch wenn das Gesuchte viel größer als ein Buch war. Das Gefühl, etwas
Wertvolles verlegt zu haben, verließ ihn manchmal den ganzen Tag nicht.
Libor, der, als sie sich kennenlernten, dreimal so alt war wie Treslove und Finkler, tauchte wie aus heiterem Himmel in ihrem Leben auf und sah in seinem kastanienbraunen Samtanzug mit farblich passender Fliege tatsächlich aus, als hätte er – wie Treslove in einem seiner Träume – die falsche Tür aufgestoßen, um nun in europäischer Geschichte zu unterrichten, obwohl er doch eigentlich nur über die kommunistische Unterdrückung reden wollte (immerhin war er so weitsichtig gewesen, 1948 vor den Kommunisten zu fliehen, kurz bevor sie die Klauen in sein Land schlugen), über die Hussiten in Böhmen und über jene Rolle, die Fenster in der tschechischen Geschichte spielten. Julian Treslove verstand beim ersten Mal »Gangster« und wurde ganz aufgeregt.
»Gangster in der tschechischen
Weitere Kostenlose Bücher