Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
»Du sagst, nur weil du einer bist, heißt das nicht, dass wir es sind. Aber ein bisschen heißt es das doch, oder nicht?«
»Hängt davon ab, welches bisschen du meinst«, warf Rodolfo ein und schnaubte erneut.
»Man kann nicht bloß ein bisschen Jude sein«, antwortete Treslove.
»Warum nicht? Man kann zu einem Viertel Inder sein, zu einem Zehntel Chinese. Warum kann man dann nicht ein bisschen jüdisch sein? Genau genommen wären wir dann halb und halb, nicht? Und das ist deutlich mehr als nur ein bisschen. Ich würde das sogar eine Menge nennen. Und ich muss sagen, die Idee gefällt mir. Was ist mit dir, Ralph?«
Rodolfo gab eine Imitation von Alec Guinness als Fagin im Film Oliver Twist zum Besten. »Da hätte ich wirklich gar nichts gegen, meine Lieben«, sagte er und rieb sich die Hände.
Die beiden Jungen lachten.
»Darf ich vorstellen? Ein Halb-Erwählter«, sagte Alfredo und reichte seinem Bruder die Hand.
»Dann erlaube mir, dir die andere Hälfte vorzustellen«, erwiderte Rodolfo.
Nein, dachte Treslove, die habe ich mein Lebtag nicht gesehen. Und er wusste nicht, ob er sie noch einmal sehen wollte.
Meine Söhne, die Gojim.
3
Völlig überraschend erhielt Libor einen Brief von einer Frau, die er seit über fünfzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie wollte wissen, ob er noch immer seine Kolumne verfasse.
Er schrieb zurück, wie schön es sei, nach all der Zeit von ihr zu hören, doch hätte er seine Kolumne 1979 eingestellt.
Er fragte sich, wie sie seine Adresse herausgefunden hatte. Seit ihrer letzten Begegnung war er mehrfach umgezogen. Es musste sie einige Mühe gekostet haben, ihn aufzuspüren.
Er verschwieg ihr, dass seine Frau gestorben war. Er fragte sich sogar, ob sie wusste, dass er geheiratet hatte. Frauen, die man fünfzig Jahre lang nicht gesehen hat und die sich derart viel Mühe machen, die Adresse herauszufinden, sagt man nicht, dass man Witwer ist.
»Hoffe, das Leben ist gut zu dir gewesen«, schrieb er. »Zu mir war es das.«
Kaum hatte er den Brief abgeschickt, sorgte er sich, dass sein melancholischer Ton zu viel verriet. »Zu mir war es das« – das hatte so etwas Dahinsterbendes und lud zur Frage ein: »Und? Ist es das immer noch?« Außerdem ließ es ihn gebrechlich wirken: ein Mann, der Zuwendung brauchte.
Erst hinterher fiel ihm ein, dass er sich nicht nach dem Grund für ihre Frage erkundigt hatte. »Schreibst du noch deine Kolumne?« Warum wollte sie das wissen?
»Wie unhöflich von mir«, schrieb er auf die Rückseite einer Postkarte. »Hast du aus einem bestimmten Grund nach meiner Kolumne gefragt?«
Nachdem er die Postkarte abgeschickt hatte – ein Selbstbildnis von Rembrandt, der Künstler als alter Mann –, fürchtete er, sie könnte glauben, er hätte die Karte gewählt, um ihr Mitleid zu wecken. Also schickte er ihr noch eine, König Arthur in vollem Ornat und der Blüte seiner Jugend. Nichts weiter. Nur seine Unterschrift. Sie würde schon verstehen.
Ach, und – aber das hatte nichts weiter zu bedeuten – auch seine Telefonnummer.
So kam es, dass er nun in der Bar des Frauenk lubs der Universität in Mayfair saß und ein Glas vom Hauschampagner mit der einzigen Frau trank, an die er, Malkie ausgenommen, sein Herz verloren hatte. Ein wenig zumindest. Emmy Oppenstein. Als sie sich um 1950 herum kennenlernten, hatte er anfangs gemeint, sie hätte Oppenheimer gesagt, was zwar nicht der Grund war, warum er sich in sie verliebte, ihrer Anziehungskraft aber durchaus auch keinen Abbruch tat. Libor war kein Snob, aber ein Kind des Österreichisch-Ungarischen Reiches, weshalb ihm Namen und Titel etwas bedeuteten. Als er sein Missverständnis bemerkte, hatten sie bereits miteinander geschlafen, und er interessierte sich um ihrer selbst willen für sie.
Zumindest hatte er das geglaubt.
Er entdeckte nichts in ihrem Gesicht, an das er sich erinnern konnte, natürlich auch nichts an ihrer Figur. Eine Frau über achtzig hat keine Figur. Das meinte er nicht unfreundlich. Er sagte sich, dass er damit nur zum Ausdruck bringen wollte, dass eine Frau über achtzig ein Anrecht darauf hat, endlich frei davon zu sein, um ihrer Figur willen begafft zu werden.
Er sah ihr an, dass sie auf slawische Weise schön gewesen war, weit auseinanderstehende eisgraue Augen, dazu Wangenknochen, an denen sich ein unvorsichtiger Mann schneiden könnte, wollte er sich bei ihr einen Kuss holen. Und doch konnte er sich an diese Schönheit nicht erinnern. Wäre es auch so, wenn er
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