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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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mit Malkie zusammensäße, sie noch lebte und er sie fünfzig
Jahre zuvor verlassen hätte? Hatte Malkie ihre Schönheit für ihn bewahrt, weil sie tatsächlich schön geblieben war, schön für jeden, der sie sah? Oder war sie nur für ihn schön geblieben, weil sich seine Augen jeden Tag an ihr geweidet hatten? Und wenn Letzteres, war ihre Schönheit dann eine Illusion gewesen?
    Emmy Oppenstein kam für ihn nicht infrage. Das sah er auf den ersten Blick. Nicht, dass er sich mit ihr getroffen hatte, um ihr aufs Neue den Hof zu machen, nein, auf keinen Fall. Aber wenn, wenn er es getan hätte, wäre er nun enttäuscht. Da er es aber nicht hatte, war er nicht enttäuscht, wie könnte er, aber hätte er …
    Nicht enttäuscht, weil sie sich schlecht gehalten hätte. Ganz und gar nicht; für ihr Alter sah sie sogar bemerkenswert gut aus: lebhaft, elegant, geschmackvoll gekleidet, ein flauschiges Strickkostüm, von Chanel – das zu erkennen hatte Malkie ihm beigebracht –, und sie trug sogar Stöckelschuhe. Für ihr Alter konnte eine Frau gar nicht besser aussehen. Doch für ihr Alter … Libor war keineswegs auf der Suche nach einer Frau, die Malkie ersetzen konnte, aber wäre er auf der Suche nach einer Frau gewesen, die ihm Malkie ersetzen konnte, hätte die brutale Wahrheit gelautet, dass diese Frau, nun, dass sie für ihn zu alt war.
    Libor war nicht blind für die grausame Absurdität solcher Gedanken. Er selbst war ein elfenhafter, kahlköpfiger Mann, die Hose fiel ihm nicht immer bis auf die Schuhe, seine Schlipse hatten ein halbes Jahrhundert in der Schublade gelegen und ihre Farbe verloren, er war von Kopf bis Fuß mit Leberflecken übersät – wie zum Teufel durfte er sich da herausnehmen, eine Frau zu alt zu finden? Außerdem musste sie gewachsen sein, wohingegen er geschrumpft war, jedenfalls konnte er sich nicht daran erinnern, je bei einer so groß gewachsenen Frau gelegen zu haben. Überlegungen die, wie er ihr ansah, während sie ihn betrachtete, präzise die ihren spiegelten. Kein Zweifel: Wenn
sie für ihn nicht infrage kam, kam er für sie erst recht nicht infrage.
    Und all dies entschied Libor in dem Moment, in dem sie sich die Hand gaben.
    Sie war Schulleiterin, war es gewesen, Friedensrichterin, Vorsitzende einer bekannten jüdischen Wohlfahrtsorganisation, Mutter von fünf Kindern und Trauerberaterin. Libor fiel auf, dass sie die Trauerberaterin zuletzt nannte. Tat sie das, weil sie über Malkie und ihren Tod Bescheid wusste? Hatte sie ihm deshalb geschrieben? Wollte sie ihm darüber hinweghelfen?
    »Du wirst dich fragen …«, begann sie.
    »Ich frage mich, aber ich staune auch«, sagte Libor. »Du siehst wunderbar aus.«
    Sie lächelte ihn an. »Das Leben ist gut zu mir gewesen«, sagte sie, »wie es laut deiner Karte auch zu dir gewesen ist.«
    Sie berührte seine Hand. Ihre reglos wie ein Stein, seine zitternd wie Espenlaub. Sie hatte sich die Fingernägel frisch lackiert. Und soweit er erkennen konnte, trug sie mindestens drei Verlobungsringe. Möglicherweise einer von ihrer Mutter, der zweite von ihrer Großmutter, ebenso gut aber konnten auch alle drei ihr selbst gehören.
    Er empfand retrospektiven Stolz auf seine eigene Männlichkeit, darauf, mit einer so beeindruckenden Frau geschlafen zu haben. Er wünschte sich, er könnte sich an sie erinnern, aber er konnte es nicht. Zeit und Malkie, vielleicht auch Malkie allein, hatten jegliche Erinnerung an sie gelöscht.
    Bedeutete das also, dass er nie mit ihr geschlafen hatte? Libor fürchtete, das Leben zu verlieren, das er gelebt hatte. Er vergaß Dinge, Orte, an denen er gewesen war, Leute, die er gekannt hatte, Gedanken, die ihm einmal wichtig gewesen waren. Würde er bald auch Malkie verlieren? Und wäre es dann, als wenn sie für ihn erotisch (»ärotihksch«) nie existiert hätte? Als wenn sie für ihn überhaupt nicht existiert hätte?

    Er erzählte Emmy von Malkie, da er sich einbildete, sie so ein wenig länger lebendig halten zu können.
    »Mein Beileid«, sagte sie, als er verstummte. »Ich hatte schon davon gehört.«
    »Würdest du mit mir auf sie anstoßen?«, fragte er. »Du kannst zwar nicht auf die Erinnerung an sie anstoßen, da du sie nicht gekannt hast, aber du könntest mit mir auf meine Erinnerung an sie anstoßen.«
    »Auf deine Erinnerung an Malkie«, sagte Emmy.
    »Und du?«
    Sie senkte den Blick. »Ja, dieselbe Geschichte.«
    »Dann trinke ich auf dich und deine Erinnerungen«, sagte Libor.
    Und so saßen sie

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