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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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sagt er, könne er verstehen, warum man Juden hasse und sie töten wolle.«
    Zum ersten Mal begann ihre Hand zu zittern.

    »Tja, ich sehe ein, warum du da Ursache und Wirkung begreifen willst«, sagte Libor.
    »Ursache und Wirkung? Wo liegt die Ursache für einen Satz wie ›Die Juden sind ein mörderisches Volk, das verdient, was es bekommt‹? In den Juden oder im Verfasser des Satzes? Ich kann dir die Wirkung beschreiben, aber wo liegt die Ursache, Libor?«
    »Ach, Emmy, jetzt komm mir nicht mit Logik.«
    »Hör zu, Libor.« Sie musterte ihn mit ihren eisgrauen Augen. »Alles hat eine Ursache, das weiß ich. Doch er sagt, er verstehe. Was bedeutet in diesem Fall verstehen? Sagt er nur, dass er begreifen kann, was Menschen dazu treibt, schreckliche und entsetzliche Dinge zu tun? Oder sagt er etwas anderes? Sagt er, dass es gerechtfertigt ist, dass Gaza die Erblindung meines Enkels rechtfertigt? Oder sagt er, dass Gaza von vornherein alle Verbrechen rechtfertigt, die in seinem Namen begangen werden? Kann keine Schlechtigkeit mehr gegen irgendeinen Juden irgendwo begangen werden, die sich nicht mit Gaza rechtfertigen ließe? Damit wird keine Wirkung zu ihrer Ursache zurückverfolgt, Libor, damit wird die Wirkung gutgeheißen. ›Ich verstehe, sagt er, dieser Kulturmensch, warum manche Leute die Juden hassen. Woraus folgt, dass ich jedwede Taten verstehe, mit denen diese Leute ihren Hass zum Ausdruck bringen. Mein Gott, verstehen wir jetzt auch noch die Schoah als etwas, das durch die Abscheu der Deutschen gegen die Juden gerechtfertigt war? Oder, schlimmer noch, wird sie im Nachhinein durch das gerecht, was die Juden in Gaza erst noch anrichten sollten? Wo hört es auf, dieses Verstehen?«
    Libor wusste, wo es aufhörte. Da, wo es immer aufhörte.
    Er schüttelte den Kopf, als müsste er seinen eigenen trüben Gedanken widersprechen.
    »Deshalb bitte ich dich«, fuhr Emmy Oppenstein fort, »wie ich alle mir bekannten Leute in deinem Beruf bitte, ihre Stimme
gegen diesen Mann zu erheben, dessen Metier, wie das deine, die Imagination ist, der aber das heilige Vertrauen in die Fantasie verrät.«
    »Man kann der Fantasie nicht sagen, was sie darf und was sie nicht darf.«
    »Nein, aber man kann darauf bestehen, dass sie, wo immer sie auftaucht, Großmut und Fairness walten lässt.«
    »Nein, kann man nicht, Emmy. Die Fairness ist keine Provinz der Fantasie. Fairness ist Sache eines Tribunals, und das ist wahrlich nicht dasselbe.«
    »Diese Art Fairness meine ich nicht, und das weißt du. Ich rede hier nicht von Ausgewogenheit. Doch was nützt die Fantasie, wenn sie uns nicht begreifen hilft, wie sich die Welt für jene anfühlt, die anders denken als du?«
    »Ist das nicht genau die Art Verstehen, die du bei deinem Filmmenschen unverzeihlich findest?«
    »Nein, Libor, ist es nicht. Sein Verständnis ist simpler Ausdruck politischer Solidarität. Er versteht, was seine Politik ihm zu verstehen vorgibt. Er stimmt zu – das ist alles. Puff!« Sie schnippste mit den Fingern. Mehr Zeit war ihr das Ganze nicht wert. »Was bedeutet, dass er nur sich selbst versteht und seinen eigenen Hang zum Hass.«
    »Na ja, das ist immerhin etwas.«
    »Das ist gar nichts. Das ist sogar weniger als nichts, wenn man nicht sagt, was dieser Hang in Wahrheit ist. Menschen hassen Juden, weil sie Juden hassen, Libor. Dafür brauchen sie keinen Vorwand. Auslöser ist nicht die Gewalt in Gaza. Auslöser ist, sofern denn ein Auslöser gebraucht wird – und viele brauchen ihn nicht –, die krasse, voreingenommene und hetzerische Berichterstattung. Der Auslöser ist das aufwiegelnde Wort.«
    Er fühlte sich, als mache sie ihm Vorwürfe, nicht seinem Beruf – ihm selbst.

    »Jede Geschichte ist eine Verzerrung der Ereignisse, Emmy. Wird deine Variante unparteiischer als seine sein?«
    »Ja«, sagte sie, »das wird sie. Ich sehe Übeltäter auf beiden Seiten. Ich sehe zwei Völker mit konkurrierenden Ansprüchen, mal gerechtfertigt, mal nicht. Ich verteile das Unrecht.«
    Zwei Frauen setzten sich an den gegenüberliegenden Tisch; Libor hielt sie beide für zwei Jahrzehnte jünger als Emmy. Er dachte jetzt in Dekaden – zehn Jahre die kleinste Maßeinheit. Sie lächelten ihn an. Er lächelte zurück. Sie sahen wie Universitätsrektorinnen aus. Hing mit der Länge ihrer Röcke zusammen. Zwei Universitätsrektorinnen, die sich trafen, um über ihre jeweiligen Universitäten zu reden. Hier könnte er es aushalten, falls man ihn aufnahm, vielleicht als

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