Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
Vom Netzwerk:
einträchtig beisammen, nippten Champagner und trauerten um ihre Liebsten, während unverheiratete Universitätsfrauen, manche vermutlich älter als Malkie zum Zeitpunkt ihres Todes, gedankenschwer an ihnen vorbeidrifteten oder langsam die Treppe hinauf ins Zimmer gingen, um den Nachmittag in ihrem Londoner Klub zu verschlafen.
    Muss für eine alleinstehende Frau ein guter Platz zum Sterben sein, dachte Libor. Auch für einen alleinstehenden Mann.
    »Es schmeichelt mir«, sagte er nach einer Weile, »dass du über meine Kolumne Bescheid gewusst hast, auch wenn ich schon im vergangenen Jahrhundert damit aufgehört habe.«
    »Ist nicht leicht, auf dem Laufenden zu bleiben«, erwiderte sie frei von aller Peinlichkeit.
    Ob ihr je etwas peinlich war, fragte sich Libor. War es ihr peinlich gewesen, als er sie ausgezogen hatte, falls er sie denn je ausgezogen hatte? Wenn er sie jetzt so ansah, hielt er es für wahrscheinlicher, dass er von ihr ausgezogen worden war.
    »Ich erzähle dir, warum ich mich an dich gewandt habe«, fuhr sie fort. »Ich habe allen meinen Freunden geschrieben, deren Stimme in der Öffentlichkeit Gewicht hat.«

    Libor wischte den Gedanken beiseite, dass seine Stimme in der Öffentlichkeit Gewicht haben könnte, doch schien er sie damit nur ungeduldig zu machen. Sie setzte sich zurecht. Elegant. Und schüttelte das Haar. Grau, aber kein Alte-Leute-Grau. Ein Grau, als hätte sie sich die Farbe ausgesucht.
    «Warum?«, fragte er, während er ihr die öffentliche Frau anmerkte, die Vorsitzende, die es gewohnt war, das Augenmerk der Männer auf das zu lenken, was sie wichtig fand.
    Und dann erzählte sie ihm, ohne Tränen, ohne falsches Pathos, dass ihr zwanzig jähriger Enkel erblindet war, weil ein Algerier ihm ins Gesicht gestochen und dabei auf Arabisch »Gott ist groß« und »Tod allen Juden« gerufen hatte.
    »Das tut mir leid«, sagte Libor. »Ist das in Algerien passiert?«
    »Nein, Libor, das ist hier passiert.«
    »In London?«
    »Ja, in London.«
    Er wusste nicht, was er als Nächstes fragen sollte. War der Algerier verhaftet worden? Hatte er seine Tat erklären können? Woher hatte er gewusst, dass der Junge Jude war? War es in einer Gegend passiert, die als gefährlich galt?
    Doch was hatten diese Fragen für einen Sinn? In der Liebe hatte Libor Glück gehabt, was aber Politik anging, so kam er aus einem Teil der Welt, der von keinem Menschen Gutes erwartete. Juden wurden wieder gehasst – natürlich wurden Juden wieder gehasst. Bald würde es aufs Neue ausgemachten Faschismus geben, Nazismus, Stalinismus. So etwas verschwand nicht. Es konnte nirgendwo hin, war unzerstörbar, unzersetzbar und wartete im menschlichen Herzen, diesem großen Abfallhaufen.
    Letzten Endes war nicht einmal der Algerier schuld. Er hatte nur getan, was ihm von der Geschichte aufgetragen worden war. Gott ist groß … töte alle Juden. Daran Anstoß zu nehmen fiel schwer – falls der erblindete Junge nicht gerade das eigene Kind, der eigene Enkel war.

    »Mir fällt dazu nichts ein, das nicht banal wäre«, erwiderte er. »Es ist schrecklich.«
    »Libor«, sagte sie und berührte wieder seine Hand, »es wird noch viel schrecklicher, wenn die Leute nichts dagegen tun. Leute in deinem Beruf zum Beispiel.«
    Er wollte lachen. »Leute in meinem Beruf? Leute in meinem Beruf interviewen berühmte Filmstars. Und ich bin nicht mal mehr in meinem Beruf.«
    »Du schreibst überhaupt nicht mehr?«
    »Kein Wort mehr, nur noch dann und wann ein Gedicht für Malkie.«
    »Aber du musst doch noch Leute kennen, Leute im Journalismus, in der Filmindustrie.«
    Er fragte sich, was die Filmindustrie damit zu schaffen hatte. Hoffte Emmy darauf, dass jemand, den er kannte, einen Film über den Überfall auf ihren Enkel drehte?
    Doch sie hatte noch einen weiteren Grund für ihr spezifisches Anliegen, dafür, einen Journalisten von Libors Schlag aufzusuchen, mit Libors Verbindungen. Sie nannte einen Regisseur, von dem Libor natürlich gehört, den er aber nie kennengelernt hatte – nicht seine Sorte Regisseur, nicht Hollywood, nicht aus dem Showbusiness –, dessen kürzlich abgegebene Kommentare Emmy zufolge ein echter Skandal waren. Libor musste doch davon gelesen haben.
    Hatte er nicht. In Sachen Klatsch war er nicht auf dem Laufenden.
    »Das ist kein Klatsch«, erklärte sie. »Er hat gesagt, er könne verstehen, warum manche Menschen meinen Enkel blenden möchten.«
    »Weil sie verrückt sind?«
    »Nein, wegen Israel. Wegen Gaza,

Weitere Kostenlose Bücher