Die Finsternis
entspannen.
Ich wollte sie nicht schon jetzt mit der ganzen Wahrheit konfrontieren: Niemand würde daran denken, nach den Sendern zu suchen. Wenn Zoe die Handelsstation erreicht und den Leuten von der Entführung erzählt hatte, würde das Schicksal meiner Eltern an erster Stelle stehen. Es würde wahrscheinlich eine Weile dauern – mindestens ein paar Stunden –, bevor irgendjemand überhaupt auf die Idee kam, im offenen Meer nach uns zu suchen.
7
Zehn Minuten, nachdem wir aus dem Meer getaucht waren, hatte Gemma sich wieder gefangen. Das Rettungsfloß schaukelte auf den Wellen und wir brutzelten in der Sonne.
»Kannst du nicht ein paar Delfine rufen, die uns mitnehmen können?«, fragte sie. »So wie du es gemacht hast, als der untere Bereich der Handelsstation untergegangen ist.«
»Ich habe keine Kontrolle über Delfine«, erklärte ich ihr. »Ich kann ein Notsignal aussenden, das ihrem gleicht, und wenn sie in der Nähe sind, werden sie normalerweise davon angelockt. Aber ich kann ihnen keine Richtung vorgeben oder ihnen sagen, wie sie uns zurück zur Handelsstation bringen können.«
»Aber es kann doch nicht schaden, es zu versuchen«, erwiderte sie. »Du bist derjenige, der immer davon spricht, wie schlau Delfine sind.«
Ich zuckte nur die Schultern und glitt über den Rand des Floßes ins Meer. Sie hatte Recht: Was konnte es schon schaden, es wenigstens zu versuchen? Sowie ich untergetaucht war, ahmte ich die aufgeregten Klicks eines Delfins nach, der in Not geraten war.
Keine Antwort. Keine Delfingruppe hatte es gehört. Ich versuchte es weiter. Noch immer nichts. Bevor ich zurück ins Floß kletterte, klickte ich noch einmal, um die Umgebung abzusuchen. Als das Echo zurückgeworfen wurde und sich ein Bild in meinem Kopf zu formen begann, schluckte ich vor Schreck Meerwasser. Oh nein, nein, nein! Hastig zog ich mich ins Floß. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich hätte wissen müssen, dass es eben doch schaden konnte.
»Was ist los?«, fragte Gemma, als sie meinen Gesichtsausdruck sah.
»Eine Orcaherde ist auf dem Weg hierher.«
»Großartig. Kannst du sie dazu bringen, uns zurück zur Handelsstation zu ziehen?«
»Weißt du, warum Orcas auch Killerwale genannt werden?«, fragte ich, während ich meine Harpune aus dem Halfter nahm. »Weil sie ausgezeichnete Jäger sind und auch gern Delfine fressen, insbesondere verwundete Exemplare, weshalb sie jetzt hierher unterwegs sind. Mein Notruf … war eine Einladung zum Essen.«
»Okay, der Notruf war eine schlechte Idee«, meinte Gemma, die sich offensichtlich bemühte, ruhig zu bleiben. »Aber du hast mir erzählt, dass Orcas keine Menschen fressen.«
»Das stimmt.« Ich suchte das Wasser um uns herum ab. »Aber ich habe nie gesagt, dass sie keine Menschen töten . Sie sind absolut unberechenbar. Jede Gruppe ist anders. Genau wie bei uns Menschen. Manche sind verspielt, andere total rücksichtslos.«
»Hoffentlich haben wir es mit verspielten zu tun.«
»Da.« Ich zeigte auf eine fast zwei Meter lange Rückenflosse, die zwischen den Wellen auftauchte.
»Oh! Die ist groß«, stieß Gemma hervor.
Mit meinem Biosonar hatte ich drei Orcas gesehen. Eine typische Anzahl für Orcas, die sich vorübergehend zu kleinen Gruppen zusammenschlossen – um zu jagen. Und Orcas waren zweifellos die cleversten Jäger des Meeres. Sie wussten ganz genau, wie sie sich zusammenrotten mussten, um einen Wal, der viermal so groß war wie sie selbst, dazu zu bringen, das Maul zu öffnen, sodass einer von ihnen hineinstürzen und ihm die Zunge herausreißen konnte – eine Delikatesse für jeden Orca.
Jetzt schwammen zwei von ihnen einen großen Kreis um das Floß. Ich hielt die Harpune quer über meinen Knien, falls einer von ihnen schon Erfahrung mit einer Harpune gemacht hatte. Ich wollte auf keinen Fall schlechte Erinnerungen heraufbeschwören. Doch wo war der dritte Orca?
Ich erhielt die Antwort, als das Meer neben uns plötzlich aufbrach und der schwarz-weiße Orca sich aus dem Wasser schraubte. Ich war wie gelähmt beim Anblick seines emporsteigenden Leibes. Für einen Moment schien das riesige Tier in der Luft zu stehen, und als würde es dann wieder die normale Geschwindigkeit aufnehmen, stürzte es sich mit voller Breitseite zurück ins Meer. Eine gigantische Wasserfontäne spritzte auf, als der Orca wieder in die Wellen eintauchte und uns völlig durchnässt zurückließ.
Ich stieß den Atem aus, den ich bis jetzt angehalten hatte. »Er wollte
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