Die Flamme von Pharos
Hätten wir unser Gespräch nur eine halbe Stunde früher geführt, wäre alles anders gekommen.«
»Wäre«, stimmte du Gard zu. »Ist es aber nicht.«
»Wie du willst«, schnaubte Sarah, wandte sich wütend ab und wälzte sich aus der Koje, um sich vollends anzukleiden. Du Gard bedachte sie mit einem bedauernden Blick – und dabei fiel ihm etwas auf, das ihm zuvor entgangen war, obwohl er jeden Zoll ihres Körpers aus nächster Nähe kennen gelernt zu haben glaubte …
»Warte«, sagte er.
»Was ist noch?«
»Diese Narbe an deiner Schulter …«
»Was soll damit sein?«
»Woher hast du sie?«
Sarahs Züge bebten. »Mein Vater hat mir erzählt, dass ich als kleines Mädchen von einem Pony gestürzt bin und mich dabei verletzt habe«, antwortete sie leise und mit einer Stimme, die vor Frustration bebte. »Erinnern werde ich mich daran wohl nie …«
7
R EISETAGEBUCH S ARAH K INCAID
N ACHTRAG
Zehn Stunden früher als erwartet, haben wir unser Ziel erreicht. Zu der Erleichterung, die ich darüber empfinde, gesellen sich all jene Sorgen und Ängste, die ich während der letzten fünf Tage zu verdrängen suchte.
Einen weiteren Versuch, das Geheimnis meiner frühen Kindheit zu erforschen, haben wir nicht unternommen. Du Gard weigert sich beharrlich, und ich verfüge weder über die Zeit noch über die Argumente, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Andere, dringlichere Aufgaben liegen jetzt vor uns.
Wird es mir gelingen, meinen Vater zu finden? Ist er wohlauf und am Leben? Wie wird er darauf reagieren, mich zu sehen? Wird er bereit sein, sein Wissen mit mir zu teilen? Hält er das Heft des Handelns in Händen, oder ist er nur eine Figur in diesem geheimnisvollen Spiel?
Schon bald werde ich die Wahrheit erfahren …
S ÜDÖSTLICHES M ITTELMEER
4 S EEMEILEN VOR DER K ÜSTE DES K HEDIVATS Ä GYPTEN
N ACHT ZUM 10. J ULI 1882
Über der Halbinsel von Pharos und Ras el-Tin, die kühn in die See hinausragt und den Hafen von Alexandria in zwei große Becken teilt, erstreckte sich ein rußig schwarzer Himmel.
Dichte Wolken hatten sich vor Sterne und Mond geschoben und ließen nur spärliches Licht hindurch, und so war nicht zu erkennen, was sich jenseits der dunklen Umrisse von Pharos befand, über denen die mächtigen Mauern von Fort Atta aufragten. Etwas weiter westlich davon erahnte man den neuen Leuchtturm sowie die Gebäude der Kaserne und des Palastes. Davor allerdings zeichneten sich überdeutlich die massigen Formen der Schiffe ab, die vor dem Hafen vor Anker lagen – stahlgepanzerte Zwei- und Dreimaster, die im kargen Licht schimmerten und auf deren Decks sich, trutzigen Türmen gleich, riesige Schlote erhoben.
Um ihre Interessen zu wahren und zu verhindern, dass die Aufständischen Kontrolle über den Kanal von Suez gewannen, hatte die britische Regierung nicht gezögert, die geballte Kampfkraft der Royal Navy einzusetzen: Schlachtschiffe, Fregatten und Kanonenboote umlagerten den Hafen wie Raubfische und schienen nur darauf zu warten, sich auf den Feind zu stürzen. Dennoch schien die Schlacht um Alexandria noch nicht begonnen zu haben …
»Ich weiß nicht«, murmelte Kapitän Hulot, während er sein rechtes Auge gegen das Okular des Periskops presste. »Das alles gefällt mir ganz und gar nicht …«
Sämtliche Maschinen der ›Astarte‹ hatten gestoppt. Das Unterseeboot trieb jetzt in der Strömung, die Beleuchtung im Ruderstand war gelöscht worden, damit durch die Bullaugen kein Lichtschein nach draußen drang.
»Was gefällt Ihnen nicht?«, erkundigte sich Sarah flüsternd.
»All die britischen Schiffe dort draußen scheinen auf etwas zu warten.«
»Worauf?«, wollte du Gard wissen, der ebenfalls zum Ruderstand aufgeentert war, zusammen mit Friedrich Hingis, der sich auch im Lauf von fünf Tagen nicht mit dem Gedanken hatte anfreunden können, auf einem Submarin zu reisen.
»Auf das Signal zum Angriff, nehme ich an.« Hulot schürzte die Lippen. »Die britische Regierung genießt den Ruf, sich nicht auf der Nase herumtanzen zu lassen. Sollten Urabi und seine Leute nicht die Waffen strecken und sich ergeben, wird es zu Kampfhandlungen kommen.«
»Wann wird das Ihrer Ansicht nach sein?«, erkundigte sich Sarah.
»Wer weiß?« Der Kapitän zuckte mit den Schultern. »Vielleicht im Morgengrauen. Oder am späten Abend. Vielleicht auch erst übermorgen. Ich nehme an, dass man den Besatzern ein Ultimatum gestellt hat, dessen Ende man erst abwarten will.«
»Dann sollten wir zusehen, dass wir
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