Die Flamme von Pharos
eine schmale Seitengasse an. Halb erwarteten sie, von einer barschen Stimme zurückgerufen zu werden, aber diesmal nahm niemand von ihnen Notiz. Ohne weiter aufzufallen, erreichten sie die Gasse und schlüpften hinein. Das Fass ließen sie am Eingang zurück.
»Wohin nun?«, wollte Hingis wissen.
»Dort entlang«, erwiderte Sarah, die unter den weiten Falten des Kaftans die Skizze eines Stadtplans hervorgezaubert hatte. »Dort befindet sich die Altstadt von Alexandria – oder vielmehr das, was nach all den Kriegen und den Erdbeben von 956 und 1303 noch davon übrig ist. Dort sollten wir mit unserer Suche beginnen.«
»Was heißt, ›dort sollten wir beginnen‹?«, erkundigte sich Hingis. »Bedeutet das, dass Sie nicht einmal wissen, wo genau Ihr Vater zu finden ist?«
»Ich habe im Archiv des Louvre Einsicht in die Karten genommen, die er vor seiner Abreise gesichtet hat, Doktor – genau wie Sie«, erwiderte Sarah. »Demnach kommen mehrere Orte als Ausgangspunkt für eine Grabung in Frage – und wenn es tatsächlich die verschollene Bibliothek ist, nach der mein Vater sucht …«
»Das Museion von Alexandria!«, rief Hingis aus. »Ich kann es noch immer nicht glauben.«
»Glauben Sie’s, aber tun Sie es leise«, rügte du Gard und blickte sich argwöhnisch in der Gasse um. »Wenn herauskommt, dass wir als Muselmanen verkleidete Europäer sind, hat unser letztes Stündchen geschlagen.«
»Verzeihen Sie«, flüsterte der Schweizer, der seit dem Augenblick, da Sarah ihm an Bord der ›Astarte‹ von der wahren Natur ihrer Suche erzählt hatte, stets ein fiebriges Leuchten in den Augen bekam, wenn die Rede vom Museion war. »Es ist nur – ich war schon einmal dabei, als Archäologiegeschichte geschrieben wurde, wissen Sie. Und es gibt nichts, das sich damit vergleichen lässt.«
»Au contraire«, widersprach du Gard mit neckischem Grinsen.
»Schwerenöter«, rügten Sarah und Hingis wie aus einem Munde, worauf sie erstaunte, fast erschrockene Blicke wechselten.
»Ihr seid derselben Meinung?«, erkundigte sich du Gard verblüfft.
»Offensichtlich«, gab Sarah widerstrebend zu.
»Zufall«, knurrte Hingis.
»Dass mir das nur nicht zur Gewohnheit wird«, tadelte der Franzose lächelnd. »Am Ende entsteht hier noch eine Freundschaft.«
»Sicher nicht«, antworteten Sarah und Hingis erneut gleichzeitig – und du Gards Grinsen wurde noch breiter.
Sie folgten einem Gewirr enger Gassen, die sich zwischen weißen, fensterlosen Mauern erstreckten. Da die Sonne noch nicht hoch am Himmel stand, war es dunkel und angenehm kühl. Die meisten der schmalen Hauseingänge, die zu beiden Seiten auf die Gassen mündeten, waren verbarrikadiert. Menschen hingegen waren nicht zu sehen, wahrscheinlich waren sie längst geflohen.
Um im Labyrinth der Gassen nicht die Orientierung zu verlieren, nahm Sarah den Kompass zu Hilfe, und schon bald erreichten sie die dicht gedrängten Häuserzeilen von El-Gumruk.
Das türkische Viertel befand sich dort, wo einst das mittelalterliche Alexandrien gestanden hatte, und es trug seinen Namen, weil es von der Architektur der osmanischen Herren geprägt war. Hohe, schmale Häuser, die in den ebenerdigen Etagen häufig Läden oder Lokale beherbergten und deren obere Stockwerke ausladende Erker mit hohen Fenstern besaßen, prägten das Bild, und erstmals trafen Sarah und ihre Begleiter hier wieder auf Bewohner der Stadt.
Das Treiben, das auf der Sharia Ras el-Tin herrschte – jener breiten Straße, die die türkische Stadt der Länge nach teilte -, war unbeschreiblich. Der berühmte Vergleich mit einem Termitenhügel, den Reisemaler David Roberts einst in Bezug auf Alexandria gebraucht hatte, kam Sarah unwillkürlich in den Sinn.
Ein Schieben, Stoßen und Drängen herrschte, gegen das die Betriebsamkeit auf dem Pariser Montmartre geradezu kläglich wirken musste: Ein nicht enden wollender Strom von Menschen, Pferden, Maultieren, Kamelen und Fuhrwerken ergoss sich die Sharia herab und bekam dabei immer noch Zuwachs aus den Seitenstraßen, sodass der Fluss längst ins Stocken geraten war. Allenthalben wurden wüste Verwünschungen gebrüllt und wütende Fäuste geballt, die Unruhe war fast körperlich zu spüren. Die Furcht vor dem bevorstehenden Angriff hatte die Menschen aus ihren Häusern zur Flucht getrieben.
Nicht wenige trugen ihre Habe mit bloßen Händen, andere hatten Lasttiere und Karren damit bepackt. Da es keine Macht gab, die ordnend einschritt, herrschte das Chaos: Während
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