Die Flamme von Pharos
Zeitungen vermutlich etwas über die ruhmreiche Vergangenheit der Royal Navy schreiben, über das technische Wunder, das ein stahlgepanzertes Kriegsschiff wie die ›Inflexible‹ darstellte, und vermutlich auch darüber, warum man den Aufständischen die Kontrolle über den Kanal von Suez nicht überlassen dürfe. Niemand zu Hause in England würde jedoch das Elend und die Furcht in den Augen der Menschen zu sehen bekommen. Und niemand hörte das Wehklagen der Frauen und das Weinen der Kinder, die ihr Heim verlassen mussten und sich nun auf der Flucht befanden.
Zur Untätigkeit verurteilt, hing Sarah düsteren Gedanken nach, die zumeist mit ihrem Vater zu tun hatten. Immer wieder überkam sie die Angst, dass sie zu spät kommen, dass der alte Gardiner bereits verloren sein könnte – du Gard jedoch beruhigte sie. Aus irgendeinem Grund schien er überzeugt zu sein, dass Gardiner Kincaid am Leben war, und nach allem, was sie gesehen und erlebt hatte, sah Sarah keinen Grund mehr, an der Aufrichtigkeit seiner Worte zu zweifeln.
Aber was, wenn er sich irrte? Auch du Gard konnte nicht alles wissen. Seine Fähigkeiten mochten erstaunlich sein, aber zweifellos hatten sie Grenzen …
Von drängender Unruhe erfüllt, sehnte Sarah das Ende des Tages herbei. Als er sich schließlich ankündigte und der Himmel im Westen sich rötlich färbte, machten die vier ungleichen Gefährten sich zum Aufbruch bereit. Ali Bey ließ es sich nicht nehmen, seinen Gästen noch ein Nachtmahl zu servieren, das aus mit Zwiebeln und Oliven gewürzten Saubohnen bestand, die er den ganzen Tag auf dem Feuer gehabt hatte. Dazu gab es Fladenbrot und Kaffee.
Zwar verspürte Sarah in Anbetracht ihrer inneren Anspannung weder Hunger noch Durst, doch sie griff trotzdem zu. Zum einen, weil unmöglich vorauszusagen war, wann sie die nächste warme Mahlzeit bekommen würden; zum anderen, weil sie Ali Bey nicht beleidigen wollte. In Anbetracht der britischen Blockade waren die Lebensmittel sicher rationiert worden. Dass der Händler ihnen zu essen gab, obgleich er wahrscheinlich selbst kaum genug hatte, imponierte Sarah und machte ihr einmal mehr klar, dass Gastfreundschaft in diesen Breiten nicht nur eine hohle Phrase war.
Nach dem Essen löschte Ali Bey sowohl das Feuer im Herd als auch die Öllampe über dem Tisch. »Anordnung des Militärs«, erklärte er dazu. »Als ob die Dunkelheit die Briten daran hindern würde, uns die Häuser über den Köpfen anzuzünden …«
Sarah erwiderte nichts darauf – was hätte sie auch entgegnen sollen? Dass es ihr leid tat? Bisher hatte sie sich über koloniale Belange kaum Gedanken gemacht und es mit Gleichmut zur Kenntnis genommen, wenn mit Kanonenbooten Politik betrieben wurde. In Zukunft würde sie sicher anders darüber denken …
Sie warteten bis Sonnenuntergang, dann verließ Ali Bey als Erster das Haus. Er ging einige Schritte die Gasse hinab, zuerst in die eine, dann in die andere Richtung, und vergewisserte sich, dass die Luft rein war. Erst danach bedeutete er seinen Schützlingen, die wie am Morgen ihre Verkleidung trugen, nachzukommen.
Sie folgten dem Gewirr der Gassen, das sich scheinbar planlos nach Südosten erstreckte, Attarin und den Vorbezirken der Stadt entgegen, während der Himmel über ihnen sich weiter verfärbte, bis er schließlich ein tiefes Rot angenommen hatte, das Hausdächer und Mauerkronen erfasste und an den weißen Mauern herab in die Gassen zu fließen schien.
»Das ist kein gutes Zeichen«, meinte Ali Bey überzeugt. »Blut wird in Strömen fließen, meine Freunde. Unheil steht bevor in dieser Nacht, Unheil für Alexandria …«
Sein Tonfall und der Ausdruck in seinen Zügen jagten Sarah eisige Schauer über den Rücken, trotz der schwülen Wärme, die über der Stadt lag. Sie sandte du Gard einen fragenden Blick, aber der Wahrsager zuckte nur mit den Schultern und wandte sich ab. Entweder, er hatte nichts zu sagen, oder, was Sarah wahrscheinlicher vorkam, er teilte Ali Beys düstere Sicht. Der britische Angriff schien unvermeidbar, die Suche nach Sarahs Vater wurde zu einem Wettlauf gegen die Zeit.
Die menschenleeren Gassen versanken in Dunkelheit. Kein Lichtschein drang mehr aus den Häusern, keine Glut stand über den Kaminen, und wo sonst flackernde Öllampen an den Vordächern von Läden und Lokalen hingen, gähnte tiefe Schwärze.
Anfangs versuchte Sarah noch, anhand ihrer Kartenskizzen dem Weg zu folgen, auf dem Ali Bey sie führte. Infolge der zunehmenden
Weitere Kostenlose Bücher