Die Flamme von Pharos
hatte genug von der Welt gesehen und erlebt, um zu wissen, dass ein Volk niemals nur gut oder böse war. Überall gab es das eine wie das andere, Licht und Schatten, und gerade dort, wo Grausamkeit und Niedertracht gediehen, erwuchs oft auch seltener Edelmut.
All dies war Sarah nur zu klar – aber würde diese Überzeugung auch dann noch Bestand haben, wenn sie vom Tod ihres Vaters erfuhr? Wenn alles, woran sie geglaubt und weswegen sie die weite Reise auf sich genommen hatte, mit einem Schlag zunichte gemacht würde?
Als sie du Gard und Hingis im blassen Mondlicht zurückkehren sah, zwei einsame Wanderer auf einem Feld des Todes, da hatte sie das Gefühl, als würde die Zeit stillstehen.
»U-und?«, erkundigte sie sich heiser.
»Non.« Du Gard schüttelte den Kopf. »Der alte Gardiner befindet sich nicht unter den Toten.«
»Sicher nicht?«
»Was soll die Fragerei?«, ereiferte sich Hingis, der noch bleicher war als zuvor. »So sicher, wie man eben sein kann, wenn man einem Dutzend halbverwester Leichen die Taschen durchwühlt und sie ihrer Papiere beraubt hat.«
»Und dabei haben Sie keine Spur von meinem Vater entdeckt?«
»Nicht eine einzige.«
Sarah atmete auf. Trotz der Schrecken, die sie gesehen hatte, huschte ein Lächeln über ihre Züge.
»Allerdings«, beeilte du Gard sich zu erklären, »muss das noch nichts bedeuten. Sie könnten ihn auch an einen anderen Ort verschleppt und ihn dort ermordet haben.«
»Und das sagst ausgerechnet du mir?«, fragte sie, »nachdem du mir die ganze Zeit über versichert hast, dass mein Vater am Leben wäre und ich mir um ihn keine Sorgen zu machen bräuchte?«
»Alors.« Du Gard, dessen Züge einmal mehr wie versteinert waren, blickte zu Boden. »Das war, bevor wir hierhergekommen sind. Bevor ich das Grauen gesehen habe …«
Sarah widersprach nicht. So erstaunlich Maurice du Gards Fähigkeiten waren, sie schienen von seinen persönlichen Empfindungen abhängig zu sein. Offenbar konnte er sich nicht vorstellen, dass jemand dieses grauenvolle Massaker überlebt haben sollte. Tatsache war jedoch, dass sich Gardiner Kincaids Leichnam nicht unter den Toten befand, und das ließ nur zwei Schlüsse zu. Entweder Sarahs Vater war noch am Leben, oder …
»Das beweist nichts, gar nichts«, echauffierte sich Hingis, dessen Bestürzung sich in purer Feindseligkeit entlud. »Ihr Vater könnte zum Zeitpunkt des Überfalls sonst wo gewesen sein. Wir wissen ja noch nicht einmal, ob wir an der richtigen Stelle nach ihm suchen.«
»Ich denke doch«, erwiderte Sarah. »Diese Zelte stammen aus britischen Militärbeständen, ebenso wie diese Werkzeuge dort und die Kisten, in denen der Proviant gelagert wurde – und wie wir wissen, war die Expedition meines Vaters im Auftrag der Regierung hier. Zudem stimmt der Ausgrabungsort mit meinen Recherchen überein. Ich gehe also davon aus, dass wir …«
»Lady Kincaid«, sagte Ali Bey plötzlich. Der Klang seiner Stimme hatte etwas Alarmierendes.
»Was …?«
Sarah verstummte, denn als sie sich zu ihrem Führer umwandte, konnte sie sie bereits sehen:
Ägyptische Soldaten.
Mindestens zwei Dutzend.
In ihren weißen Uniformen waren sie auch bei Dunkelheit weithin auszumachen, ihre Bajonette blitzten im kalten Mondlicht.
Augenblicklich suchten Sarah und ihre Begleiter hinter einigen Trümmern Zuflucht. Noch waren die Soldaten weit entfernt und schienen sie nicht gesehen zu haben, aber sie marschierten direkt auf das Lager zu …
»Alors, es sieht so aus, als wäre unsere nächtliche Exkursion nicht unbemerkt geblieben«, kommentierte du Gard.
»Entweder das, oder wir wurden verraten«, knurrte Hingis.
»Von wem?« Ali Bey sandte ihm einen befremdeten Blick. »Von mir etwa? Sie können mir glauben, effendi, dass ich über diesen Besuch nicht weniger entsetzt bin als Sie. Wer dabei erwischt wird, dass er mit dem Feind zusammenarbeitet, bekommt die Hände abgeschlagen.«
»Dazu wird es nicht kommen«, meinte Sarah bestimmt. »Ali Bey, Sie können gehen.«
»Was?«
»Ihr Teil der Abmachung bestand darin, uns zur Ausgrabungsstätte zu führen, und das haben Sie getan. Also gehen Sie jetzt. Bringen Sie sich in Sicherheit, so lange noch Zeit dazu ist.«
»Und wer kümmert sich dann um Sie? Mit Verlaub, Lady Kincaid – ohne mich werden Sie sich nicht zurechtfinden. Sie bedürfen meiner Dienste – so wie ich Ihres Geldes.« Das Grinsen, das über seine Züge huschte, war geradezu entwaffnend.
»Hören Sie nicht auf ihn«, zischte
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