Die Flamme von Pharos
seiner Füße und Hände klebte verwesendes Fleisch. Seine Züge hatten kaum noch etwas Menschliches, seine Augäpfel waren wohl ein Fraß von Krähen geworden.
Wie von einer Feder geschnellt, schoss Sarah in die Höhe. Dabei verhedderte sie sich in der zerrissenen Zeltbahn und gebärdete sich wie von Sinnen, um sich daraus zu befreien. Wohin sie auch blickte, sah sie weitere Leichen: ihrer Stiefel beraubte Beine, die aus dem Eingang eines weiteren Zeltes ragten; ein kopfloser Torso, der unweit der erloschenen Feuerstelle lag; schließlich eine elende, leblose Gestalt, die hoch an einem hölzernen Flaschenzug hing.
Trotz des beißenden Gestanks schnappte Sarah nach Luft. Sie wollte einen gellenden Schrei ausstoßen, der weithin zu hören gewesen wäre, ihre Kehle glücklicherweise jedoch nicht verließ. Eine Gestalt war plötzlich bei ihr und presste ihr die Hand auf den Mund.
Du Gard …
Die Berührung des Freundes beruhigte Sarah ein wenig. Sie zwang sich, ruhiger zu atmen, und kämpfte die Panik nieder, die von ihr Besitz ergriffen hatte.
»Wird es gehen?«, erkundigte sich du Gard.
Sarah nickte krampfhaft, worauf er seinen Griff lockerte und ihr dabei half, sich aus den Überresten des Zeltes zu befreien. »Sie sind tot«, presste sie dabei tonlos hervor. »Alle sind sie tot …«
»Je sais.« In du Gards Stimme schwang ehrliche Trauer mit, während er seinen Blick über die grausige Szenerie schweifen ließ. »Es tut mir leid, Sarah.«
»Warum ein solches Blutbad?« Sarah schüttelte fassungslos den Kopf. »Diese Männer waren Wissenschaftler, keine Soldaten. Ihre Arbeit diente friedlichen Zwecken …«
»Glauben Sie denn, das interessiert diese Bastarde?« Zusammen mit Ali Bey hatte Friedrich Hingis ebenfalls zu ihnen aufgeschlossen. Die Stimme des Schweizers überschlug sich fast vor Aufregung, blankes Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Dies war ein Akt der rohen Barbarei! Diese Männer wurden geradezu abgeschlachtet.«
»Offensichtlich«, meinte du Gard leise, »hat man die Archäologen als Eindringlinge betrachtet, als Räuber, die den Ägyptern ihre Vergangenheit stehlen – und sich blutig dafür gerächt.«
»Allerdings«, gestand Sarah erschüttert ein.
»Es tut mir wirklich leid, Lady Kincaid«, versicherte Ali Bey. »Ich wollte nicht, dass Sie das sehen. Hätte ich gewusst, dass sich Ihr Vater unter diesen Leuten befindet, hätte ich mich niemals erboten, Sie hierherzuführen.«
»Seien Sie unbesorgt«, versicherte Sarah. Ihre schlanke Gestalt straffte sich, ihre Züge wurden zur unbewegten Maske, aber nicht eine Träne trat in ihre Augen. »Sie haben nur getan, worum wir Sie gebeten haben, nicht mehr und nicht weniger. Was wir jedoch brauchen, ist Gewissheit. Maurice, würdest du bitte …«
»Naturellement«, erklärte du Gard sich ohne Zögern bereit. »Hingis, kommen Sie, und helfen Sie mir.«
»Ihnen helfen? Wobei?«
»Lady Kincaid möchte Gewissheit.«
»Gewissheit worüber?«
Du Gard antwortete nicht, sondern bedachte den Schweizer mit einem Blick, der so unmissverständlich war, dass Hingis sofort begriff – was ihn allerdings nicht vom Zetern abhielt.
»Ich soll Ihnen dabei helfen, unter all diesen Leichen nach der von Gardiner Kincaid zu suchen?«, erkundigte er sich voller Unglauben. »Glauben Sie, ich hätte nichts Besseres zu tun?«
»Im Augenblick nicht«, meinte du Gard überzeugt. »Außerdem erweisen Sie einer gemeinsamen Freundin damit einen Gefallen.«
»Freundin? Was für eine Freundin?«, maulte Hingis vor sich hin, folgte du Gard jedoch. »Wir haben ein geschäftliches Abkommen, von Freundschaft war niemals die Rede …«
Einmal mehr kam das Warten Sarah endlos vor.
Sie rechnete es ihren Gefährten – und insbesondere Hingis – hoch an, dass sie es ihr nicht zumuteten, persönlich nach dem Leichnam ihres Vaters zu suchen. Noch immer stand ihr der grässliche Anblick der Toten deutlich vor Augen. Den alten Gardiner so zu erblicken, hätte sie nicht verkraftet.
Sollten sich ihre geheimen Befürchtungen als wahr herausstellen, allen Beteuerungen du Gards zum Trotz? Hatte der Wahrsager ihr nur etwas vorgemacht? Hatte er womöglich längst gewusst, dass ihrem Vater etwas zugestoßen war, dass sein lebloser Körper im Wüstensand verrottete?
Ali Bey half bei der Suche, als könnte er so etwas von dem Unrecht wiedergutmachen, das hier geschehen war und für das er sich zum Teil verantwortlich zu fühlen schien. Natürlich war dies Unsinn – Sarah
Weitere Kostenlose Bücher