Die Flamme von Pharos
können Sie nicht«, meinte Sarah überzeugt und wandte sich entschlossen zum Gehen, »und auch mein Vater könnte es nicht. Gute Nacht, Monsieur du Gard. Haben Sie vielen Dank für …«
»Warten Sie.«
Sie drehte sich um. »Was ist noch?«
»Sind Sie sicher, dass es dabei wirklich um Ihren Vater geht?«
»Was soll das heißen?«
»Nichts weiter. Vielleicht irre ich mich ja auch«, erwiderte du Gard und schnitt eine Grimasse, die Sarah nicht gefallen wollte. Wieso nur hatte sie das Gefühl, dass du Gard sich über sie lustig machte? Nicht genug damit, dass er sich in Angelegenheiten mischte, die ihn nichts angingen – seine Art, auf Dinge anzuspielen, sie dann aber nicht offen auszusprechen, war in höchstem Maße enervierend.
»Überlassen Sie das mir«, wies Sarah ihn deshalb brüsk zurecht. »Sie sollten sich um Ihren eigenen Kram kümmern und Ihre Nase nicht unablässig in Dinge zu stecken, die Sie nichts angehen.«
»Glauben Sie mir, das würde ich gerne«, versicherte du Gard, »aber das ist leider nicht möglich.«
»Warum nicht?«, schnaubte sie.
»Weil ich es Ihrem Vater versprochen habe«, erklärte du Gard müde und ein wenig resignierend. »Würden Sie mir die Ehre erweisen, morgen mit mir zu Abend zu essen?«
Einmal mehr war Sarah verblüfft. »Zuerst beleidigen Sie mich, und dann laden Sie mich zum Essen ein?«
»Warum nicht?« Ein Hauch von Amüsiertheit spielte um seine Augen. Zu echter Heiterkeit schien er nicht mehr fähig.
»Aber ich kenne Sie doch kaum.«
»Wenn Sie Ihrem Urteil nicht vertrauen, dann vertrauen Sie dem Ihres Vaters. Ich bin ein Freund, Sarah. Ich will Ihnen helfen.«
»Was Sie nicht sagen – etwa hiermit?« Sie deutete auf die Flasche mit dem Absinth. Dass du Gard sie vertraulich beim Vornamen genannt hatte, war ihr nicht einmal aufgefallen.
»Sie sollten nicht darüber spotten«, erwiderte er und wirkte verletzt. »Vielleicht wird die Wahrheit aus dem Absinth Ihnen eines Tages noch nützlich sein.«
Einmal mehr ertappte sie sich dabei, dass Sie seinetwegen ein schlechtes Gewissen hatte. Maurice du Gard schien zugleich ihre schlechtesten und ihre besten Eigenschaften zu Tage zu fördern, und seine Gegenwart verwirrte Sarah in einem Maß wie kein anderer Mann zuvor – auch wenn sie dies in erster Linie dem rätselhaften Artefakt und den beunruhigenden Neuigkeiten zuschrieb.
»Also gut«, erklärte sie sich bereit. »Ich bin einverstanden. Ich logiere im Hotel …«
»Ich weiß«, sagte er nur. »Ich werde Sie gegen sieben Uhr abholen lassen.«
»Sieben Uhr?« Sie hob die Brauen. »Ein wenig spät für ein Dinner.«
»Wir sind hier nicht in England, ma chère«, erwiderte du Gard achselzuckend. »Solange Sie in Paris weilen, sollten Sie sich an die hiesigen Gepflogenheiten halten.«
»In Ordnung«, sagte sie nur.
»Soll ich Sie nach Hause bringen lassen?«
»Nicht nötig – mein Kutscher wartet nur eine Häuserzeile entfernt.«
»Passen Sie auf sich auf, Sarah.«
»Keine Sorge«, erwiderte sie, und mit einem letzten Blick auf den exzentrischen Franzosen, der inzwischen nicht nur mehr müde und erschöpft, sondern um Jahre gealtert wirkte, wandte sie sich ab und verließ die Garderobe.
5
P ERSÖNLICHES T AGEBUCH S ARAH K INCAID
N ACHTRAG
Ich gebe zu: Ich war wütend.
Wütend auf Maurice du Gard, der mehr zu wissen schien, als er zugab, und der mich behandelte wie ein törichtes Schulmädchen – und sagte er überhaupt die Wahrheit? Konnte ich ihm trauen?
Mein Vater hatte es offenbar getan, aber auch dafür gab es letztlich keinen Beweis. Mein einziger Anhaltspunkt war der Würfel, den ich bei mir trug und dessen Gewicht mich bei jedem Schritt daran erinnerte, dass ich sein Rätsel lösen musste.
Hätte du Gard mir nicht dabei behilflich sein können, statt mich mit dreisten Vorwürfen zu behelligen? Was geht es ihn an, weshalb ich mich auf die Suche nach meinem Vater begebe? Weiß er überhaupt, was es bedeutet, jemanden zu lieben und zu fürchten, ihn zu verlieren?
Wütend, verwirrt und ratlos verließ ich an jenem Abend das Theater – nur so ist zu erklären, was weiter geschah …
Durch das Foyer trat Sarah ins Freie.
Wenn sie jedoch geglaubt hatte, damit aus der glitzernden Scheinwelt des Varietés zurück in eine nüchterne Realität zu gelangen, so war dies ein Irrtum – denn jenseits der Kristalllüster und des roten Samts des »Miroir Brisé« war, umhüllt vom Mantel der Nacht, die demimonde zum Leben erwacht.
In ihrem Hotel hatte
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