Die Flamme von Pharos
wohl nicht genügend Zeit, es mir zu verraten. Aber er bat mich, dieses Ding für ihn aufzubewahren und es an Sie zu übergeben, wenn Sie nach Paris kämen.«
»Und sonst hat er nichts gesagt?«
»Mais oui!«, versicherte du Gard. »Er schärfte mir ein, dass Sie, falls er jemals in Gefahr geraten sollte, den Gegenstand nehmen und damit nach England zurückkehren sollten. London wäre zu unsicher, sagte er, deshalb sollten Sie umgehend nach Yorkshire reisen und in Kincaid Manor auf seine Rückkehr warten.«
»Und der Würfel?«
»Darüber sagte er nichts – nur, dass Sie ihn hüten sollten wie Ihren Augapfel, da es sich um ein Stück von unschätzbarem Wert handelte.«
»Und Sie erwarten von mir, dass ich Ihnen all das glaube?«, erkundigte sich Sarah misstrauisch. »Immerhin haben Sie mir nicht einen einzigen Beweis für Ihre abenteuerlichen Behauptungen vorgelegt.«
»Concédé. Aber Sie halten den Würfel in Ihren Händen. Und wenn ich recht verstanden habe, ist er das erste Lebenszeichen, das Sie von Ihrem Vater in den letzten Monaten bekommen haben, n’est-ce pas?«
»Das stimmt«, räumte Sarah ein und wog den Würfel in ihrer Hand.
»Sie werden also mit meinem Ehrenwort vorliebnehmen müssen, Lady Kincaid«, folgerte du Gard. »Bedenken Sie die Bedingungen, unter denen wir uns kennen lernten. Ich habe Ihnen eine Einladung zu meiner Vorstellung zukommen lassen – warum sollte ich das tun, wenn nicht aus Verbundenheit zu Ihrem Vater?«
»Wer weiß?«, erwiderte Sarah bissig. »Vielleicht, um mich vor versammeltem Publikum vorzuführen?«
»Meine Güte, ich habe mich doch bei Ihnen entschuldigt. Sind britische Frauen immer so nachtragend?«
»Bisweilen.« Sarah nickte grimmig. »Öffentlich hingerichtet zu werden wird mir allmählich zur schlechten Gewohnheit.«
»Alors, glauben Sie mir nun oder nicht?«
»Das muss ich wohl«, schnaubte Sarah, während widersprüchliche Gefühle in ihrer Brust tobten. Zum einen war da die Freude darüber, von ihrem Vater zu hören, die freilich dadurch gedämpft wurde, dass das Artefakt keine Auskunft darüber gab, ob Gardiner Kincaid wohlauf und am Leben war. Zudem hatte Sarah daran zu beißen, dass sowohl der Würfel als auch die Nachricht von ihrem Vater ihr von einem ihr völlig Fremden übergeben worden waren. Sie hatte den Namen Maurice du Gard nie zuvor gehört, und er wollte ein enger Freund ihres Vaters sein? Wenn es so war, weshalb hatte der alte Gardiner ihn Sarah dann niemals vorgestellt? Mehr noch, wieso hatte er nie von ihm gesprochen?
Zugegeben, auf seinen Forschungsreisen rund um die Welt hatte Gardiner Kincaid unzählige Menschen kennen gelernt, die Sarah unmöglich alle bekannt sein konnten – aber ein Charakter wie du Gard wollte nach ihrem Verständnis ganz und gar nicht zu ihrem Vater passen. Und was, in aller Welt, hatte es mit dem geheimnisvollen Artefakt auf sich, das ihr Vater angeblich für sie hinterlegt hatte?
Es kränkte Sarah, auf all diese Fragen keine Antwort zu wissen, und obwohl sie sich einredete, dass es kindisch und albern war, kam sie sich ausgeschlossen vor. Warum hatte sie denn letztlich eingewilligt, in England zu bleiben und zumindest den Versuch zu unternehmen, eine respektable Lady zu werden? Doch nur ihrem Vater zuliebe! Um ihm einen Gefallen zu tun, hatte sie sich den Zwängen der Gesellschaft gefügt und war nach London gegangen, mit dem ehrlichen Vorsatz, ihrem Vater dort alle Ehre zu machen – aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass dies ein Fehler gewesen war …
»Sie sagten vorhin, dass mein Vater in großer Gefahr schwebe«, hakte sie nach.
»Oui, c’est vrai.«
»Woher wissen Sie das? Und kommen Sie mir nicht wieder mit irgendwelchen Kristallkugeln …«
»Ich hatte einen Traum«, erwiderte du Gard näselnd.
»Darauf möchte ich wetten«, konterte Sarah säuerlich und deutete auf die halb geleerte Flasche. »Diese Wirkung stellt sich wohl öfter ein, nachdem Sie ein Tête-à-tête mit der grünen Fee hatten.«
»Im Absinth liegt manche Wahrheit verborgen«, bestätigte du Gard ernst, ihren vorwurfsvollen Tonfall ignorierend. »Aber in diesem Fall hat das eine nichts mit dem anderen zu tun. Vielleicht ist ›Traum‹ auch das falsche Wort. Es war mehr eine Vision, die ich von Ihrem Vater hatte …«
»Eine Vision?«
»Sie ereilte mich vor ein paar Tagen, kurz vor Beginn der Vorstellung. Ich stand hinter dem Vorhang und wartete auf meinen Auftritt, da sah ich Ihren Vater, wie er …«
»Ja?«,
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