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Die Flamme von Pharos

Die Flamme von Pharos

Titel: Die Flamme von Pharos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Sarah Leute davon sprechen hören, was es bedeutete, wenn sich die engen und steilen Gassen des Montmartre in ein Panoptikum wildester Gestalten verwandelten, die weder Traum noch Wirklichkeit zu entspringen schienen, sondern nur hier ihr Zuhause haben konnten. Eine Welt der Gegensätze: Das Schöne paarte sich mit dem Hässlichen. Freude mit Trauer. Licht mit Dunkelheit. Überfluss mit bitterer Armut.
    Und das oft genug im wörtlichen Sinn …
    Loderndes Feuer, das die schäbigen Fassaden grell beleuchtete, ließ Sarah herumfahren – aber es war nur ein Straßenartist, dessen dunkle Hautfarbe und Turban auf eine exotische Herkunft schließen ließen und der die Passanten unterhielt, indem er lodernde Feuerbälle zum nächtlichen Himmel spie.
    Die Straßen rund um den Place du Tertre waren dicht bevölkert, ein wildes Drängen und Treiben herrschte auf den Bürgersteigen und in den Gassen. Feine Herren, die Zylinderhüte und Fräcke trugen und deren Augen vom Alkohol glänzten, waren ebenso anzutreffen wie grell geschminkte junge Frauen, die ihre üppigen Körper in schreiend bunte Seidenkleider gezwängt hatten, mit Dekolletés, so tief, dass sie mehr enthüllten als verdeckten. Mit bittersüßem Lächeln suchten sie Kundschaft in die Lokale und Bordelle zu locken und brauchten sich meist nicht lange zu bemühen – wohlhabende messieurs, die ungeachtet jeder Moral nach Zerstreuung hungerten, schien es mehr als genug zu geben. Dazu spielten hier und dort Musikanten auf, und Harlekine huschten umher und neckten die Leute mit derben Streichen. Alles schien erlaubt zu sein und nichts verboten an diesem seltsamen Ort, an dem alle Geschlechter und Hautfarben zueinander gefunden zu haben schienen.
    Die Versuchung war allgegenwärtig: Eine Gruppe kindlich kichernder Liliputaner zog umher, um für eine Varietédarbietung zu werben, und von den bunt bemalten Schildern und Reklametafeln, die den brüchigen Putz der Mauern überdeckten, lockte Vergnügen in jeder nur denkbaren Form: Theater, Tanz, Musik und Zerstreuung für jene, die die leichte Unterhaltung suchten – Absinth und käufliche Liebe für die anderen. Niemand hörte auf den Prediger, der am Ende einer Häuserzeile stand und vom Jüngsten Gericht sprach, von Sodom und Gomorrha und vom Zorn des Herrn, der alle Sünder erfassen und hinwegraffen werde. Unstillbare Gier nach Lust und Zerstreuung schien allen Menschen des Viertels gemein zu sein.
    Die Elektrizität hatte in Paris, der modernsten Stadt der Welt, bereits Einzug gehalten, und so waren viele der Fassaden, die sich von der Rue Lepic zum Place du Tertre und Richtung Place Pigalle erstreckten, hell beleuchtet. Einigen in Fachwerk errichteten Gebäuden war ihre rustikale Herkunft noch anzumerken, andere waren hinter üppigen Dekorationen verschwunden – hier grüßten römische Musen, dort der griechische Weingott Dionysos. Die Fenster der Bars waren weit geöffnet, sodass die Animierdamen sich nach draußen beugen und dabei wie zufällig ihre Oberweite entblößen konnten, sehr zur Freude der vergnügungshungrigen Herren. Die zahllosen Künstler, die am Montmartre zu Hause waren und sich vom bunten, sündhaften Treiben inspirieren ließen, waren nur noch vereinzelt anzutreffen, meist in Gestalt blasser junger Männer, die mit wirrem Haar und sinnentleertem Blick die Bars und Lokale bevölkerten. Nach Einbruch der Dunkelheit vereinigten sich Boheme und Bürgertum ungeachtet aller politischen Schranken zu einem bizarren Reigen, der jeden erfasste, der sich im Viertel aufhielt.
    Nur Sarah Kincaid nicht.
    War sie zu Beginn noch fasziniert gewesen von der bedingungslosen Freiheit, die am Montmartre zu herrschen schien, so entging ihr nicht, dass dieser Ort auch einer gewissen Dekadenz nicht entbehrte. Das Vergnügen um seiner selbst willen zu suchen, war zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte ein Zeichen von drohendem Niedergang gewesen, und nach allem, was Sarah bei Maurice du Gard gesehen und erfahren hatte, konnte sie nicht anders, als in vom Absinth glänzenden Augen und zu grinsenden Masken erstarrten Mienen ein schlechtes Omen zu sehen. Das allgegenwärtige Lachen mutierte in ihren Ohren zum dämonischen Kichern, untermalt von den scheppernden Klängen von Klavieren und Ziehharmonikas.
    Dieses seltsame Artefakt, das Sarah in Ölpapier gewickelt bei sich trug – was hatte es damit auf sich? Warum hatte in der Depesche nichts davon gestanden? Warum hatte ihr Vater es du Gard gegeben, statt es ihr nach

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