Die Flamme von Pharos
wann?«
»Der Zeitpunkt muss klug gewählt werden. Solange Kincaids Tochter sich in der Stadt aufhält, riskieren wir, entdeckt zu werden, wenn wir ihr den Codicubus mit Gewalt abnehmen. Die sûr eté ist seit Recassins Tod wachsamer geworden.«
»Was schlagen Sie stattdessen vor?«
»Ich werde abwarten und sie im Auge behalten – früher oder später wird sich eine Gelegenheit ergeben.«
»Je früher, desto besser. Das Artefakt darf nicht in noch mehr fremde Hände gelangen. Sein Geheimnis muss gewahrt bleiben.«
»Dessen bin ich mir bewusst.«
»Was ist mit Kincaids Tochter? Wie viel weiß sie?«
»Ich werde es herausfinden und entsprechend verfahren. Die Erbin birgt beides, Nutzen und Gefahr.«
»Ihr Glaube in allen Ehren, aber ich will nicht, dass wir ein Risiko eingehen. Ich verlasse mich auf Sie. Die gesamte Organisation verlässt sich auf Sie. Enttäuschen Sie uns nicht.«
Die sonore Stimme zögerte einen unmerklichen Augenblick. Dann verbeugte sich ihr Besitzer, ein hünenhafter Schatten, vor dem selbst der Schein der Kerze furchtsam zurückzuweichen schien.
»Das werde ich nicht, Meister …«
9
P ERSÖNLICHES T AGEBUCH
S ARAH K INCAID
Alexandrien also.
Bei allem, was ich inzwischen über meinen Vater herausgefunden habe, frage ich mich fast, weshalb ich nicht früher darauf gekommen bin. Nicht irgendein archäologisches Projekt ist es, das er unter dem Siegel strengster Geheimhaltung verfolgt, sondern sein alter Traum, von dem er mir erzählt hat, solange ich zurückdenken kann.
Dem Finder des Alexandergrabes, so hat Vater mir einst versichert, winken Reichtum im Überfluss und unvergänglicher wissenschaftlicher Ruhm. Zwar kann ich mir nicht vorstellen, dass Gardiner Kincaid es auf weltliche Güter abgesehen hat, auf akademische Anerkennung dafür jedoch umso mehr. Was für eine Genugtuung müsste es für ihn sein, als Entdecker eines der größten Rätsel der Antike gefeiert zu werden! Selbst Schliemanns Ruhm würde dagegen verblassen, und das Rennen der Konkurrenten wäre auf ewig entschieden.
Aber so sehr ich Vaters Beweggründe verstehe, so groß sind meine Zweifel. Weshalb, so frage ich mich, hat er mich nicht in seine Pläne eingeweiht? Warum hat er mir verschwiegen, dass er an der Verwirklichung seines Traumes arbeitet? Warum nahm er gar in Kauf, dass ich an der Sorbonne von seinen Gegnern gedemütigt wurde?
Bislang habe ich stets versucht mir einzureden, dass Vater dafür einen guten Grund gehabt haben muss. Je länger ich darüber nachdenke und je deutlicher das Rätsel zutage tritt, desto mehr glaube ich, diesen Grund inzwischen zu kennen.
Mein Vater traut mir nicht …
H OTEL L’A MBASSADEUR
Q UAI DE LA M EGISSERIE , P ARIS
21. J UNI 1882
Das Foyer des Hotels, in dem Sarah Kincaid übernachtete, war ein weitläufiger Saal, der in barockem Prunk schwelgte. Vergoldeter Stuck und aufwendige Malereien zierten die Decke, die Wände waren mit großen Spiegeln beschlagen. An kleinen Tischen saßen Reisende und Geschäftsleute, die man in allerlei Sprachen parlieren hörte – hier schnappte Sarah einen Fetzen Englisch auf, dort einen Brocken Deutsch, während sich an einem weiteren Tisch vier gewichtig aussehende Herren auf Russisch unterhielten.
In ihrer Jugend hatte Sarah es geliebt, an Orten wie diesem zu verkehren; sie hatte sich dann vorzustellen versucht, woher all diese Menschen mit ihren fremden Sprachen kamen und wie es dort aussehen mochte. Und sie hatte sich vorgenommen, jedes einzelne dieser Länder zu bereisen und mit eigenen Augen zu sehen – ein Vorsatz, der freilich schwerlich einzuhalten war, noch dazu für eine Frau.
Die Enthüllungen der letzten Tage hatten allerdings gezeigt, dass Sarah zumindest eine weitere Reise antreten würde.
Ins ferne Alexandria …
Für fünf Uhr – also genau zu jener Zeit, zu der man in Sarahs Heimat den Tee zu reichen pflegte – hatte Maurice du Gard sie zum Treffen mit dem geheimnisvollen Helfer bestellt, über den er im Vorfeld nichts weiter hatte verraten wollen.
Sarah hatte nicht angenommen, dass du Gard pünktlich sein würde, umso überraschter war sie, den eigenwilligen Franzosen zusammen mit einem anderen Monsieur bereits an einem der kleinen Tische sitzen zu sehen. Ihre Überraschung steigerte sich allerdings noch, als ihr klar wurde, dass sie den fremden Herrn kannte.
Es war kein anderer als der, der ihr in der Aula der Sorbonne die Einladung zu du Gards Vorstellung überreicht hatte, damals, an jenem
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