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Die Flamme von Pharos

Die Flamme von Pharos

Titel: Die Flamme von Pharos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Kapuze – und ein entsetzter Schrei entfuhr ihr, als sie in eine entstellte Fratze blickte.

2
    Als Sarah erneut erwachte, war ihre Lage noch unbequemer als zuvor. Das Erste, was sie durch den dichten Nebel ihrer Bewusstlosigkeit wahrnahm, war der strenge Geruch von Salz und Fisch. Dazu war wieder das Rauschen zu hören, näher diesmal und eindeutig als Brandung zu erkennen, die gegen Klippen schlug und sich daran brach.
    Es war kalt.
    Feucht.
    Dunkel.
    Die Kopfschmerzen hatten nachgelassen, dafür fühlten sich Sarahs Hände und Füße taub und leblos an, was nicht nur an der klammen Kälte lag, sondern auch daran, dass sie noch immer gefesselt waren und die ledernen Riemen tief in die Gelenke schnitten. Wer immer Sarahs Peiniger war, er schien sein Handwerk zu verstehen. Schaudernd rief sie sich noch einmal jene grässlichen Züge ins Gedächtnis, die sie aus der Kapuze angestarrt hatten – und riss entsetzt die Augen auf.
    Tiefes Blau umgab sie, das Halbdunkel einer sternklaren Nacht. Ringsum sah sich Sarah von meterhohen Wänden aus Fels umgeben, nur wenn sie den Kopf ganz in den Nacken legte (worauf sich die Kopfschmerzen hämmernd zurückmeldeten), konnte sie hoch über sich eine kreisrunde Öffnung mit gezacktem Rand erkennen, über der ein schmaler Mond am Himmel stand. Stufen, die in den von Korallen und Muscheln verkrusteten Fels gehauen waren, wanden sich spiralförmig empor, unerreichbar fern.
    Ein unheimliches Gurgeln ließ Sarah vollends zu sich kommen.
    Die Quelle des Geräuschs war ein Salzwasserpfuhl, der in der Mitte der Höhle klaffte und, soweit es sich im Mondlicht erkennen ließ, in unergründliche Tiefen reichte. Schäumende Blasen stiegen an die Oberfläche, wie aus dem Rachen eines gefräßigen Untiers. Was Sarah jedoch ungleich mehr erschreckte, waren die bleichen Knochen, die rings um den Pfuhl verstreut lagen. Menschliche Knochen, die Überreste anderer Gefangener …
    Sarah versuchte, ihre Gliedmaßen zu bewegen – es gelang ihr nicht. Die Riemen, mit denen sie an einen von Miesmuscheln übersäten Felsblock gefesselt war, waren so straff, dass sie kaum eine Bewegung zuließen. Nur mühsam gelang es Sarah, den Kopf zu drehen, und sie erkannte, dass sie nicht allein in der Höhle war.
    Mit einer Mischung aus Erschrecken und Erleichterung stellte sie fest, dass Maurice du Gards Lage nicht weniger prekär war als ihre eigene: Auch er stand aufrecht an einen Fels gefesselt, war nur mit seinen baumwollenen Unterhosen bekleidet und fror erbärmlich. Seine rechte Schläfe war von verkrustetem Blut bedeckt, seine Gesichtszüge so fahl und teigig wie der Mond. Alles in allem sah der Franzose ziemlich elend aus, was ihn jedoch nicht daran hinderte, ein schwaches Lächeln zu versuchen.
    »In meinem Land«, drang seine Stimme krächzend herüber, »bezeichnet man eine solche Lokalität als oubliette, als ›Ort des Vergessens‹. Der Ausdruck dürfte zutreffen, denn ich fürchte, aus genau diesem Grund hat man uns hergebracht.«
    »Sieht ganz so aus«, stimmte Sarah düster zu.
    »Mon dieu, Kincaid. Ich habe das Gefühl, als säße eine Dampfmaschine auf meiner Brust.«
    Sarah zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln. Noch vor wenigen Tagen hätte sie nichts als Verachtung für du Gards so offen zur Schau gestelltes Selbstmitleid übrig gehabt – nun jedoch schmerzte es sie, ihn so zu sehen. Ihre gemeinsame Liebesnacht schien Ewigkeiten zurückzuliegen. Bruchstückhafte Erinnerungen daran steckten wie Splitter in Sarahs Bewusstsein und schmerzten bei jedem Atemzug.
    »Das kommt vom Äther«, erwiderte sie. »Du musst tief atmen, dann wird es rasch vergehen.«
    »Mon dieu«, sagte du Gard erneut. »Wie sind wir nur in diese jammervolle Lage geraten? Ich kann mich kaum an etwas erinnern …«
    »Ich erinnere mich durchaus«, versicherte Sarah, und in aller Kürze berichtete sie ihrem Begleiter, was nach ihrem ersten Erwachen geschehen war und was sie von ihrem geheimnisvollen Häscher erfahren hatte.
    »Mon dieu.« Als du Gard die Worte zum dritten Mal wiederholte, klangen sie nicht mehr nach einer beiläufigen Floskel, sondern nach einem echten Fluch oder einem Stoßgebet. Vielleicht war es beides zusammen. »Wer ist dieser impertinente Mensch, der uns an diesen tristen Ort verschleppt hat?«
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte Sarah tonlos.
    »Er trug also eine Kapuze?«
    »In der Tat.«
    »Und sein Gesicht war nicht zu sehen? Zu keinem Zeitpunkt?«
    Sarah zögerte einen unmerklichen Augenblick.

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