Die Flamme von Pharos
Jahrhunderte nach Kallimachos. Er kann also unmöglich über ihre Werke informiert gewesen sein.«
»Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt? Sind das die Grenzen Ihrer Vorstellungskraft? Ihr Vater hat weit weniger Zeit benötigt, um das Rätsel zu lösen, Lady Kincaid.«
»Tut mir leid, wenn ich Ihre Erwartungen nicht erfülle«, knurrte Sarah. »Dann sagen Sie mir doch einfach, was diese Schriften zu bedeuten haben.«
»Nein, sagen Sie es mir!«, verlangte der Vermummte streng. »Verraten Sie mir, weshalb im vierten Jahrhundert Ihrer Zeitrechnung noch immer Verzeichnisse nach dem Vorbild des Kallimachos angefertigt wurden, die sich noch dazu bis zum heutigen Tag erhalten haben.«
»Weil die originalen pinakes bis in diese Zeit existierten?«, riet Sarah ein wenig lustlos.
»Ihre Gedanken sind so kurzatmig wie die Lunge eines altersschwachen Greises. Wo bleibt Ihr Mut zu Visionen?«
»Visionen worüber?«
»Über einen alten Menschheitstraum, Lady Kincaid. Einen Ort, der Muse und der Kontemplation gewidmet, an dem das gesammelte Wissen der Welt aufbewahrt wird. Eine universale Bibliothek, gegründet nur aus dem einen Grund, die Menschen den Göttern ebenbürtig zu machen.«
»Alexandria«, flüsterte Sarah atemlos. Eisige Schauer rannen ihr über den Rücken, als sie die Wahrheit hinter allem zu erahnen begann. »Das Museion, die sagenumwobene Bibliothek …«
»Endlich.« Das Haupt unter der Kapuze nickte.
»Diese Kataloge stammen aus dem Museion von Alexandria?
»Allerdings.«
»Aber es heißt, die Bibliothek wurde vernichtet, im großen Brand des Jahres 47 …«
»So nimmt man an – obwohl es viele Gelehrte gibt, die anderer Ansicht sind. Unter anderem auch Ihr Vater …«
Sarah spürte einen Stich in ihrem Herzen. Wieder etwas, das sie von ihrem Vater nicht wusste – im Gegenteil, der vermummte Hüne schien besser informiert zu sein als Gardiner Kincaids eigene Tochter …
»Die Bibliothek von Alexandria wurde also nicht von Cäsars Truppen zerstört?«, fragte sie.
»Nur ein geringer Teil davon, der in den Lagerhäusern unweit des Hafens untergebracht war. Der Rest existierte weiter – nicht nur bis in die Zeit der römischen Kaiser und der osmanischen Kalifen, sondern weit darüber hinaus.«
»Bis zum heutigen Tag«, ergänzte Sarah flüsternd, auf die Abschriften zu ihren Füßen starrend. »Ist das das Geheimnis, das das Artefakt gehütet hat?«
»Allerdings.«
Sarah kniff die Lippen zusammen. Was sie da erfuhr, war ebenso außergewöhnlich wie bestürzend – und es hatte Folgen, die ihr eben erst klar zu werden begannen. Wenn ihr Vater den Inhalt des Codicubus gekannt und ihn für sie hinterlassen hatte, ließ das im Grunde nur einen Schluss zu …
»Mein Vater ist nicht auf der Suche nach dem Alexandergrab«, hauchte Sarah atemlos und wurde kreidebleich, als sich auch noch die letzten Teile des Mosaiks zusammenfügten. »Sein Ziel ist das Museion, die verlorene Bibliothek …«
»Ganz recht.« Der Vermummte nickte.
»Weshalb wissen Sie davon?«, fragte Sarah argwöhnisch. »Welche Rolle spielen Sie dabei?«
Der Hüne lachte nur. »Für Sie und Ihresgleichen ist das Ausgraben antiker Artefakte nichts als ein zielloses Stochern im Staub der Zeit. Aasfresser sind Sie, nichts weiter – unsere Ambitionen hingegen gehen weiter. Wir wissen, dass Jahrtausende nichts bedeuten und dass die Vergangenheit auch heute noch wirksam ist.«
»Sie hören sich an wie jemand, der den Verstand verloren hat«, kommentierte Sarah geringschätzig.
»Ich erwarte nicht, dass Sie mich verstehen, unwissend, wie Sie sind. Schließlich hat sich auch Ihr Vater von uns abgewandt, und er wusste ungleich mehr als Sie.«
»Was soll das Gerede?«, fragte Sarah. »Wieso waren Sie so erpicht darauf, den Würfel an sich zu bringen, wenn Sie den Inhalt ohnehin schon kannten? Warum musste Pierre Recassin sterben?«
»Weil der Codicubus das letzte Glied in einer langen Kette von Beweisen ist, die die Existenz der Bibliothek von Alexandria belegen – und weil dieses Wissen niemals ans Licht kommen darf.«
»Warum nicht?«, fragte Sarah. »Eine Universalbibliothek, in der das Wissen der Welt gesammelt wird, ist ein alter Menschheitstraum, und Alexandria ist der Inbegriff einer solchen Institution. Wenn bekannt würde, dass die Bibliothek noch existiert, käme das einer Sensation gleich. Wissenschaftler aus aller Welt würden nach Ägypten strömen, um …« Sie unterbrach sich, als der Kapuzenmann in spöttisches
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