Die Flammen der Dämmerung: Roman (German Edition)
nicht den kahlen Kopf des Mädchens anzustarren, als Melan nun zu ihr kam. Sie war ein paar Jahre älter als Inevera und sehr hübsch ohne die Kopfbedeckung. Sie streckte die Hände aus, die jeweils mit mindestens zehn Fuß Seide umwickelt waren. Inevera folgte ihrem Beispiel, sie traten über den Streifen Seide zwischen ihren Händen und schoben ihn über ihre Gesäßbacken.
»Das erste Geflecht heißt Everams Hüter«, erklärte Melan, zog die Seide straff und kreuzte sie über ihrer Scham. »Es wird siebenmal übereinandergelegt, einmal für jede Säule im Himmel.« Inevera ahmte ihre Bewegungen nach, und nach einer Weile gelang es ihr mitzuhalten, bis Qeva einschritt.
»Die Seide hat sich verdreht. Beginnt noch einmal von vorn«, befahl die dama’ting .
Inevera nickte, beide Mädchen lösten das Geflecht und fingen erneut an. Inevera krauste die Stirn und gab ihr Bestes, um die Bewegungen perfekt nachzuahmen. Kenevah hatte gesagt, dass Melan für ihre Fehler verantwortlich gemacht würde, und sie wollte nicht, dass man das Mädchen für ihre Ungeschicklichkeit bestrafte. Es gelang ihr, bis zur Kopfbedeckung mitzuhalten, ehe die dama’ting wieder etwas zu bemängeln fand.
»Nicht so stramm«, kritisierte Qeva. »Du bindest einen Bido und versuchst nicht, den gebrochenen Schädel eines Sharum zu bandagieren. Macht es noch einmal.«
Melan bedachte Inevera mit einem ärgerlichen Blick, der ihre Wangen vor Scham glühen ließ, doch von Neuem entwirrten sie die Seidenstränge und entflochten vollständig ihre Bidos, bevor sie die gesamte Prozedur wiederholten.
Beim dritten Mal hatte Inevera den Bogen raus. Ihre Finger entwickelten ein natürliches Gefühl für das Muster der Maschen, das Flechten ging ihr glatt von der Hand, und bald standen sie und Melan in vollkommen gleichen Seidenbidos da.
Qeva klatschte in die Hände. »Vielleicht kann doch noch was aus dir werden, Mädchen. Melan brauchte Monate, um das Flechten eines Bidos zu lernen, und sie war noch eine der Schnellsten. Nicht wahr, Melan?«
»Wie die dama’ting sagt.« Melan machte eine steife Verbeugung, und Inevera kam der Verdacht, dass Qeva sie aufzog.
»Ab ins Bad mit euch«, kommandierte Qeva. »Es ist schon spät am Tag, und bald wird die Küche geöffnet.«
Bei der Erwähnung von Essen fing Ineveras Magen an zu knurren. Seit ihrer letzten Mahlzeit waren viele Stunden vergangen.
»Du kriegst bald was zu essen.« Qeva lächelte. »Nachdem du und die anderen Mädchen das Abendessen aufgetragen und das Geschirr abgewaschen habt.«
Sie lachte und deutete in die Richtung, aus der der Wasserdampf und die platschenden Geräusche kamen. Melan entledigte sich rasch ihres Bidos und steuerte auf den Ort zu. Inevera brauchte etwas mehr Zeit, da sie aufpassen musste, die Seide nicht zu verheddern; dann folgte sie ihr, wobei ihre nackten Füße auf den Marmorkacheln klatschten.
Der Gang endete vor einem großen Becken mit heißem Wasser, von dem dichte Dampfschwaden aufstiegen. Darin tummelten sich ein paar Dutzend Mädchen, allesamt so kahlköpfig wie Melan. Einige waren in Ineveras Alter, viele jedoch älter, auch ein paar fast erwachsene Frauen befanden sich darunter. Sie standen in dem steinernen Bad und wuschen sich, oder sie räkelten sich auf den glatten Steinstufen am Rand des Beckens, um sich die Körperhaare abzurasieren und die Nägel zu schneiden.
Inevera dachte an den Eimer mit warmem Wasser, den sie und ihre Mutter sich teilten, wenn sie sich säubern wollten. Die ihnen gewährte Ration war so gering, dass sie das Wasser nur selten austauschen konnten. Voller Staunen watete sie in das Becken, genoss es, wie das heiße Wasser ihre Schenkel liebkoste, und zog die Fingerspitzen über die Oberfläche, wie wenn sie auf dem Markt einen Seidenstoff prüfte.
Bei ihrem Eintreten blickten alle auf. Die Mädchen, die lässig auf den Steinstufen herumlümmelten, schnellten hoch wie zischende Schlangen; jedes Augenpaar in dem dampfenden Gewölbe heftete sich auf die beiden Neuankömmlinge. Hastig ließen sich die, die noch saßen, ins Wasser gleiten und umringten sie.
Inevera drehte sich um, doch der Rückweg war bereits abgeschnitten. Der Kreis der Mädchen wurde enger, ließ keine Flucht mehr zu und versperrte Außenstehenden die Sicht auf Inevera und Melan.
»Ist sie das?«, fragte ein Mädchen.
»Die, welche von den Würfeln erwählt wurde?«, erkundigte sich jemand anders. Die Stimmen verloren sich in den Dampfwolken, als die Mädchen
Weitere Kostenlose Bücher