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Die Flammen der Dunkelheit

Die Flammen der Dunkelheit

Titel: Die Flammen der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyne Okonnek
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der anderen schützte er sein Kind. So manches Mal schnellte ihm ein Zweig schmerzhaft ins Gesicht, Dornen hakten sich fest und zerrissen Kleidung und Haut. Warum hatte sich die Natur auf einmal gegen ihn verschworen, statt ihn zu beschützen? Er konnte es nicht ändern, er brauchte alle Energie, die er hatte, um einen Fuß vor den anderen zu setzen, ohne zu fallen. Cleas’ Atem ging pfeifend, er bekam kaum noch Luft. Taumelnd schleppte er sich durch den Wald. Sein Zustand war bedenklich. Er hatte viel Blut verloren, aber das allein sollte ihm nicht wirklich schaden. Es war die eiserne Pfeilspitze in seiner Brust, die ihn umbringen würde. Wieder verwünschte er das Schicksal, das den Schaft hatte abbrechen lassen, als er versucht hatte, den Pfeil aus der Wunde zu ziehen. Die Widerhaken mussten sich zwischen den Rippen verfangen haben. Er spürte das kalte Metall in der linken Lunge brennen. Sein ursprüngliches Vorhaben, die Gefährten im Osten zu treffen, ihnen das Kind zu übergeben und nach Süden zu fliehen, bis er die Soldaten vielleicht doch narren und ihnen entkommen konnte, hatte er längst verworfen. Das würde er niemals schaffen. Seine scharfen Sinne ließen ihn nach und nach im Stich, er roch kaum das Blut in der Kleidung und den Boden unter den Füßen, hörte weder den Wind noch die Rufe der Käuzchen. Wie sollte er da Verfolger wahrnehmen? Nein, das Wagnis, allzu dicht an den menschlichen Siedlungen vorbeizugehen, war zu groß, er würde gar nicht merken, wenn sie ihm dicht auf den Fersen wären. Es blieb nur eine Möglichkeit.
    Schweiß lief ihm über die Stirn und er zitterte. Die Kälte in den Gliedern war der erste Bote des Todes. Er durfte nicht das Bewusstsein verlieren, nicht so knapp vor dem Ziel. Hoffentlich lebte die Alte noch, und hoffentlich waren auch ihre Schutzzauber schwach genug, dass er sie durchdringen konnte, sonst war alles verloren. Er hatte keine Kraft mehr, die anderen zu erreichen. Schwarze Flecken tanzten vor Cleas’ Augen und sein Atem rasselte. Die Dunkelheit schloss sich rings um ihn herum. Er prallte gegen Bäume, deren Silhouette er übersah. Inzwischen hatte er beide Arme um das Bündel gelegt, um es besser schützen zu können. Dafür zerkratzten ihn Äste, in die er blindlings gelaufen war. Das Kind, das Kind, sang es in seinem Kopf und trieb ihn vorwärts. Der Säugling schien von alledem nichts mitzubekommen und zu schlafen. Das kleine Herz pochte ruhig und gleichmäßig, während der Puls des Vaters vor Anstrengung raste. Wie lange würden seine Kräfte vorhalten? Der Schmerz in der Brust wurde immer stechender. Gleichzeitig wuchs die Angst, es nicht mehr zu schaffen. Das durfte nicht geschehen! Cleas rief den Nachtwind um Hilfe an, bat um Führung, doch seine Stimme reichte nur für ein Murmeln, bis auch dieses erstarb. Er klammerte sich mit aller Macht an die Hoffnung, gehört worden zu sein. Als die Bäume weiter auseinanderrückten – zumindest kam ihm das so vor, denn er stieß seltener dagegen –, glaubte er erhört worden zu sein. Das schenkte ihm neue Energie. Er durchquerte eine Senke, erklomm keuchend einen Hügel und folgte dem Lauf eines Baches, dessen Plätschern ihm einen Weg zu verraten schien. Bevor er recht wusste, warum, blieb Cleas plötzlich stehen. Blinzelnd starrte er auf den schwankenden Lichtschein vor ihm. Das musste die Hütte sein! Als er näher kam, konnte er ein erleuchtetes Fenster ausmachen, und dann sah er einen Schatten dahinter, die Alte war allem Anschein nach wach.
    Sie sah nicht im Geringsten verwundert oder gar erschrocken aus, als er klopfte und gleich darauf durch die Tür stolperte, ohne eine Einladung abzuwarten. Ruhig stand sie in der Mitte des kleinen Raumes, von dessen Decke unzählige Büschel mit Kräutern hingen, und schaute ihn an. Hinter ihr prasselte ein Feuer im Kamin, doch die Wärme erreichte Cleas nicht. Er musste fürchterlich aussehen, blutig, von Dornen zerkratzt, die Kleider zerrissen. Aber die alte Frau verlor kein Wort darüber. Vermutlich hatte auch sie die Gabe zu sehen geerbt und wusste längst, dass und vielleicht sogar warum er auf dem Weg zu ihr war.
    »Ihr müsst ihn schützen! Seine Mutter, sie wollte ihn töten …«, keuchte er und hielt ihr den Säugling hin, der im selben Augenblick erwachte und weinte. Die alte Frau nickte nur und nahm ihm das Kind ab.
    »Sie dürfen ihn nicht finden!«, sagte er eindringlich.
    Die Alte wickelte das Kind vorsichtig aus dem Umhang und strich ihm über das

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