Die Flammen der Dunkelheit
fiel ihm auf, dass der Sandstreifen schmaler war als zu Beginn seines Abstiegs. Es war also Flut! Er verdoppelte seine Anstrengung, schnell hinabzugelangen. Der Wettlauf mit dem Meer machte ihm beinahe Spaß. Wieder sprang er das letzte Stück und rollte sich ab. Katzengleich kam er auf die Füße und rannte zu dem immer noch unbeweglich dort Liegenden. Doch plötzlich blieb er mitten im Lauf stehen. Sein Verstand konnte gar nicht so schnell verarbeiten, was ihm seine Augen meldeten. Vollkommen überrascht sah er, dass es ein Junge mit schweren Verletzungen war, und er war angekettet! In dem Moment, als er begriff, kochte rasende Wut in ihm hoch. Was hatten sich diese grausamen Menschen da wieder ausgedacht? Der Junge würde ertrinken! Wie gut, dass die Dohle hartnäckig geblieben war! Dieses Mal würde er nicht einfach nur zusehen!
Glic eilte zu dem Gefangenen, der so schlimm zugerichtet war, dass es ihm den Magen umdrehte. Während er gegen die Übelkeit kämpfte, fühlte er mit der einen Hand nach dem Puls am Hals des Jungen und mit der anderen kramte er in der Geheimtasche nach seinem Werkzeug. Erleichtert stellte er fest, dass der Junge lebte. Bevor er mit der Arbeit begann, schaute er sich um. Er konnte weiter hinten eine Öffnung im Fels entdecken, vermutlich der Zugang zu einer Höhle. Von da waren die Ungeheuer gekommen, um sich des Gefangenen auf solch grausame Art zu entledigen. Es gab natürlich ein Risiko, dass er von dort aus bei seinem Tun entdeckt wurde, aber das hielt ihn nicht davon ab, sich bereits mit dem Schloss zu beschäftigen, das die linke Hand des Verletzten an den Fels kettete. Befriedigt stellte er fest, dass es kein besonders schwieriger Mechanismus war. Vermutlich rechnete niemand damit, dass der Junge noch in der Lage sein würde, sich zu befreien. Während Glic das Ohr dicht an das Schloss hielt, um das leise Klicken nicht zu verpassen, hörte er auf einmal jemanden seinen Namen flüstern. Erstaunt schaute er auf. In dem zerschlagenen, blutverkrusteten Gesicht vor ihm bewegten sich die Lippen. Jetzt war es deutlich zu vernehmen, der Junge sagte seinen Namen! Mit offenem Mund starrte Glic ihn an. Außer Ardal und Benen wusste keiner, wie er hieß. Halt …! Auf einmal wurde ihm ganz seltsam zumute. Forschend sah er den anderen an. Jetzt erst fielen ihm die Augen auf, die fast zugeschwollen waren. Dämonenaugen! Und noch etwas meinte er zu entdecken, eine entfernte Ähnlichkeit mit … Glic stockte der Atem.
»Dallachar?«, flüsterte er entsetzt.
Der Junge versuchte zu nicken, aber dann hielt er abrupt inne, seine Gesichtszüge verzerrten sich vor Schmerz. Eine Träne rann ihm aus dem Augenwinkel.
»Grian sei mit dir«, murmelte Glic. Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Bis ins Mark erschüttert betrachtete er den Gefährten, mit dem er einige wundervoll unbeschwerte Stunden auf einem Boot verbracht hatte. Kaltes Wasser schwappte ihm über den Fuß und riss ihn aus seinen Überlegungen. Das Meer! Er hatte die Flut ganz vergessen! Jetzt packte ihn auf einmal Angst, nicht genügend Zeit zu haben. Fieberhaft arbeitete er an den Schlössern. Als er endlich das letzte geknackt hatte, überspülten Wellen ihre Beine. Dallachar wimmerte, vermutlich brannte das Salz in den Wunden. Jetzt erst wurde Glic bewusst, dass Dallachar sich vermutlich kaum bewegen konnte. Wie sollte er da den Fels hochklettern? Er schob die Gedanken beiseite und beugte sich zu dem Verletzten hinab.
»Meinst du, dass du mit meiner Hilfe aufstehen kannst?« Wieder versuchte Dallachar zu nicken und begann sich aufzurichten. Die Schmerzen mussten unerträglich sein. Schaudernd sah Glic durch die zerfetzten Kleider rohes Fleisch und hässliche Brandwunden am Körper des Jungen. Schnell streckte er die Arme aus, um Dallachar zu helfen. Kaum hielt er ihn an den Schultern, sackte dieser in sich zusammen. Verzweifelt überlegte Glic, wie er den Bewusstlosen retten konnte. Sein Blick fiel auf die Ketten. Eisen! Er musste sein Werkzeug loswerden. Glic schaute sich um und entdeckte die Dohle neben sich im Sand.
»Komm her, schnell!«, sagte er und als sie näher hüpfte, hielt er ihr sein Werkzeug hin. »Das musst du tragen. Verlier es nicht!« Es kam ihm schon ein wenig seltsam vor, so mit dem Vogel zu sprechen, aber bisher hatte der ihn immer verstanden. Also konnte er es zumindest ausprobieren. Tatsächlich packte die Dohle das Werkzeug, aber es glitt ihr sofort wieder aus dem Schnabel und sie ließ den Kopf
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