Die Flammen von Lindisfarne
Tage des einarmigen Kriegsgottes Tyr tanzten die nackten Jünglinge, deren Knabenzeit zu Ende ging, den ganzen Tag und die ganze Nacht im Takt von Trommeln, Rohrflöten und Stierhörnern zwischen aufgesteckten Schwertern und Speeren. Nur ganz kurze Pausen wurden bei diesem Tanz geboten, denn hier wurde die Zähigkeit und Ausdauer der jungen Krieger auf die Probe gestellt.
Und als der andere Morgen herannahte, war niemand von den jungen Männern mehr ohne Wunde, die er sich an den scharfen Scheiden während der Ekstase des Tanzes zugezogen hatte. Aber auch hier wurde der Schmerz unterdrückt und die Blutungen von anwesenden Heilfrauen mit grünen Blättern rasch gestillt, damit der Tanz fortgesetzt werden konnte.
Am nächsten Tage, dem Tage Odins, wurden die jungen Krieger, die sich im Kampfspiel und beim Schwerter-Tanz bewährt hatten, feierlich in die Gemeinschaft der Männer aufgenommen und leisteten dem Jarl den Treueeid auf die Vertragsrunen von Odins Speer, den Horlf Silberhaar in feierlicher Weihe dem künftigen Wikinger entgegen streckte. Danach durfte der junge Mann am Thing teilnehmen, öffentlich Waffen tragen und hatte die Pflicht, dem Jarl auf Kriegszüge zu folgen.
Endlich kam der Tag, der das Fest zu Balders Ehren brachte. An der Feier zu Ehren des Gottes des Lichts und der Versöhnung nahm die gesamte Volksgemeinschaft teil. Es war der Tag Sommersonnen-Wende, an dem die Sonne nicht ganz versank, doch es den schwarzen Schatten der Nacht nicht gelang, die Helligkeit des Tages ganz zu besiegen. Nach diesem Fest wurden die Tage wieder kürzer und die Frühlingszeit des erwachenden Lebens war zu Ende. Was folgte, war die Ernte des Sommers und die Zeit des Verfalls der Natur im Herbst, die dem eisigen Tod des Winters voran ging.
So wie bald die Ähren unter der Sichel des Schnitters starben, so wie einst Balder selbst in sanftmütiger Unschuld gestorben war, so wollte es der uralte Brauch, dass auch ein braune Fohlen sterben musste.
Mitten im heiligen Hain, unter dem Schatten uralter Eichen, in deren Gezweig die Weihegeschenke für Odin vermoderten, war der Thingkreis und Opferplatz. Neben einem Altar aus mächtigen Steinen lote ein Feuer und ließ das Wasser in einem Kessel aus getriebenem Kupfer brodeln. Das Fleisch des Fohlens wurde gekocht und dann in kleinen Stücken an die anwesenden Festgäste als ein gemeinsames, verbindendes Mahl verteilt. Mit dem in einer Schüssel aufgefangenem Blut aber zeichneten sich die Gläubigen der alten Götter Thors heiliges Hammerzeichen auf die Stirn.
In feierlichen Worten erzählte Hrolf Silberhaar noch einmal die uralte Saga vom Tode des Gottes Balder. So lange dieser gütige Gott lebte, gab es keine Feindschaft in Walhall. Kein Scheltwort und kein Schwertklirren war in Breidablick, Balders Halle in Asgard, zu vernehmen. Aus den unheilschwangeren Worten der Urmutter Erda aber wusste Odin, dass der Gott des Lichtes von der Hand eines unwissenden Meuchelmörders fallen werde. Die Ur-Wala kündete ihm, nach Balders Tod Ragnaröck, das Ende der Welt und die Götterdämmerung bevor stand.
So galt es, den Tod des Lichtes und der Versöhnung zu verhindern. Frau Frigga, Odins Gemahlin, zog aus in die Welt und ließ sich von allen Wesen und Dingen über und unter der Erde den heiligsten Eid schwören, Balders Leben zu schonen. Nur vom Mistelstrauch verlangte sie nicht den Eid. Die Zweige der Mistel hingen zu hoch im Baum und waren so dünn, dass sie Frigga nicht gefährlich erschienen. Kaum erfuhr das jedoch der arglistige Loki, als er hinging, einen Mistelzweig pflückte und ihn spitz wie einen Pfeil machte.
Indessen hatten die Asen ein neues Spiel ersonnen. Sie warfen ihre Speere auf Balder, zückten ihre Schwerter auf ihn oder ließen ihre Pfeile sirren. Gütig lächelnd stand der Gott der Versöhnung in dem fröhlichen Kreis. Die Schwerter wichen jedoch zurück und die Speere fielen vor ihm zu Boden. Eisen und Holz, Bronze und Stein, alles hielt den Eid, Balders Leben zu schonen.
Abseits der lustigen Schar saß Hödur, Odins blinder Bruder. Er ist der Gott des Eises und des erstarrenden Winterfrostes. Ihm drückte der heimtückische Loki den spitzen Mistelzweig in die Hand. Und von Hödurs starker Hand geworfen und von Lokis Zauberkräften gelenkt drang die Mistel Balder ins gütige Herz.
Im gleichen Augenblick, als seine Worte von Balders Tod kündeten, stieß Hrolf Silberhaar dem sich aufbäumenden Fohlen einen
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