Die Fliege Und Die Ewigkeit
aber Beerdigungen sind am besten.«
Wieder zögert sie, streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Maertens greift in die Innentasche.
»Möchtest du ein wenig Cognac in den Tee? Das braucht man bei diesem Wetter.«
»Ja, bitte.«
Er gießt die letzten Tropfen in die Tassen, und beide trinken vorsichtig.
»Ich verstehe immer noch nicht, wie du wie ein Engel leuchten konntest«, sagt Maertens.
Sie sieht ihn zweifelnd an. Wie der Wind, der den ganzen Nachmittag in der Baumkrone fest saß und es jetzt nicht mehr schafft, sich dort oben zu halten, denkt er.
Es ist ein eigentümliches Bild, und es verschwindet, als sie ihn direkt ansieht.
»Es muss ein Zufall gewesen sein ... nein, ich meine nicht ein Zufall. ... aber es gab eine Sekunde, einen Augenblick dort hinten auf dem Friedhof, ich glaube, in dem geschah etwas. Aber ich habe nicht geleuchtet wie ein Engel, das hast du dir nur eingebildet. Du bist ein wenig angetrunken, oder?«
Er seufzt. Eine Weile sitzen sie schweigend da.
»Wie war noch dein Name?«
»Maertens.«
»Maertens, ich muss jetzt gehen. Danke für den Tee und den Cognac. Du kannst meine Telefonnummer haben, wenn du mich einmal anrufen willst.«
Sie schreibt sie auf eine Serviette.
»Aber ich bin kein Engel, glaub das ja nicht.«
»Nur ein Betrachter?«
»Ja.«
Ein kurzes Stück haben sie den gleichen Weg. Am Kreugerpark bleibt sie stehen, legt ihm für einen Moment die Hand auf den Arm. Dann verschwindet sie zwischen den Bäumen.
Er geht den ganzen Weg zu Fuß nach Hause. Der Schwips zeigt sich mittlerweile von seiner schlechtesten Seite, aber er kennt sich so wenig mit den Buslinien aus. Er fährt sowieso nie mit dem Bus, nur mit der Straßenbahn. Mit der Zwölf zum Stadion.
Da kann er lieber gleich gehen. Der Regen ist zurückgekehrt. Er kommt in launigen Böen angebraust und peitscht ihm ins Gesicht. Er überlegt, wo er den Regenschirm vergessen hat. In der Kirche? Draußen am Grab? Im Taxi oder im Bus oder im Café ...
Er schiebt die Fäuste in die Manteltaschen. Beißt die Zähne zusammen, spürt, wie der leere Flachmann im Rhythmus mit seinen Schritten gegen den Krebsfleck schlägt. Mein Gott, denkt er. Der du über alles herrschst. Lösche die letzte halbe Stunde aus meinem Leben! Lass mich sofort zu Hause sein, du kannst diese dreißig Minuten in eine große Zeitfalte legen.
Aber das ist nur vergebliches Feilschen, wie immer. Weder Gott noch der Teufel wollen jemals eine einzige Minute aus einem Menschenleben haben. Man kann sich natürlich fragen, warum nicht.
Er versucht sich zu konzentrieren und an Nadja zu denken. Sie in Worte zu fassen. Das macht er übrigens den ganzen Nachmittag lang, aber es scheint, als entzöge sie sich allen seinen Anstrengungen. Verberge sich, plötzlich ist er zu schwach. Die ganze Woche hat er sich auf die Begegnung mit Marlene konzentriert, und jetzt läuft er hier herum und umklammert die Telefonnummer einer anderen Frau auf einer Serviette in der Manteltasche. Läuft er Gefahr, aus dem Konzept zu geraten? Vielleicht gibt es aber gar keinen Grund, sich zu wundern. Vielleicht hat das meiste sowieso nur mit dem Cognac zu tun, von dem er zweifellos eine ganze Menge zu sich genommen hat. Vielleicht wird er ja alles am nächsten Tag besser begreifen, wenn er ausgeschlafen ist und einen klaren Kopf hat.
» – ’s ist ein Ziel, aufs Innigste zu wünschen«, murmelt er ... ja, er merkt, dass sich seine Lippen bewegen, und plötzlich kommt der ganze Gedankenschwall ins Rutschen, das Unterbewusstsein lässt ihn frei ...
– schlafen – schlafen! Vielleicht auch zu träumen!
– Ja, da liegt’s!
Er spürt, dass die Kopfschmerzen wie eine Wolke anwachsen. Er muss zur Toilette ... das ist alles einfach nur armselig. Aber jetzt kann er zumindest zwischen den Häusern schon den Fluss erkennen.
Er ist erst seit kurzem zu Hause, als er ohne Vorwarnung in Tränen ausbricht. Er sitzt in seinem alten Ohrensessel und schaut in die Dunkelheit, und er weiß nicht, warum ihm die Tränen über die Wangen laufen.
Ob er um Tomas Borgmann weint.
Oder um seiner selbst willen.
Oder wegen Marlene oder Nadja oder wegen der alten Frau in der Straßenbahn.
Oder um Ludo.
Aber da alle Trauer doch ein und dasselbe ist, spielt das vielleicht gar keine so große Rolle.
10
I m Laufe des Sonntags wird vieles klarer.
Nur nicht das Wetter. Die Regenschauer kommen und gehen, ein blaugrauer Himmel drückt das Licht unter
Weitere Kostenlose Bücher