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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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ein Engel strahlen«, fährt Maertens fort. Ihm ist klar, dass es sich hier um ein äußerst ungewöhnliches Gespräch handeln muss. Sie liegen auf einem feuchten Fußweg und unterhalten sich, er und diese ihm vollkommen unbekannte Frau.
    »Eine Sekunde lang hatte ich das Gefühl, etwas zu sehen, was ich noch nie zuvor gesehen habe«, sagt sie.
    »Mhm«, murmelt Maertens.
    Dann fällt ihm nichts mehr ein, was er sagen könnte. Stattdessen stehen sie auf. Bürsten sich den Schmutz ab. Maertens entschuldigt sich für sein Auftreten, fragt, ob sie sich verletzt hat. Er spürt, wie sie schnell wieder an den Rand der Besinnung kommen. Bald, sehr bald, werden sie in der stummen Wirklichkeit ankommen, plötzlich wird er von einer großen Wut gepackt, dass ihm all das hier aus den Händen rinnen soll. Dass es einfach aufhören wird wie ein zufälliger Augenblick in einer anonymen Volksmenge.
    »Wir können da hinten ins Café gehen, wenn du weiter reden willst«, sagt sie, kurz bevor es zu spät ist. »Aber nur kurz. Ich heiße Nadja.«
    »Maertens.«
     
     
    Das Café scheint in erster Linie aus Dampf zu bestehen.
    Er kann nicht so recht ausmachen, woher er kommt. Ob er von den Menschen ausgesondert wird, die über die milchweißen Tische gekauert hocken, oder ob man hinter dem Tresen große Kessel mit Teewasser kocht. Das Fenster zur Straße hin ist beschlagen, jemand hat neben ihrem Tisch Wendemeer ist scheiße auf die Fensterscheibe geschrieben. Das Porzellan ist feucht und heiß, als hätte man es gerade aus der Geschirrspülmaschine geholt. Er bietet ihr eine Zigarette an, sie nimmt sie entgegen, legt sie dann aber auf den Tisch. Er sieht, dass sie Flecken von der Feuchtigkeit bekommt, zündet sich selbst eine an und beginnt zu fragen:
    »Hast du Tomas Borgmann gekannt?«
    »Nein, überhaupt nicht.«
    »Nicht?«
    »Nein.«
    »Und warum warst du dann auf seiner Beerdigung?«
    »Ich gehe oft auf Beerdigungen.«
    »Warum das?«
    »Was meinst du?«
    »Warum gehst du auf Beerdigungen?«
    »Weil sie mir gefallen. Jedenfalls meistens. Sie beruhigen mich, ich spüre, dass ich dazu gehöre.«
    »Dazu gehöre?«
    »Ja.«
    »Ich fürchte, ich verstehe nicht.«
    Sie sieht ihn nicht an, während sie miteinander sprechen, hält stattdessen ihren Blick fest auf die Teetasse gerichtet und rührt langsam darin mit dem Löffel herum.
    »Ja, dazu gehöre«, wiederholt sie. »Dass ich nicht einsam außen vor stehe ... während einer Beerdigung stehen ja alle in der gleichen Reihe, alle sind den gleichen Bedingungen unterworfen. Außer dem Toten. Die Toten sind tot, die Lebenden leben. Das ist alles. Deshalb ist es gerade dort so einfach, lebendig zu sein. Es gibt eine starke Gemeinschaft.«
    Sie zögert kurz. Er möchte, dass sie weiter spricht, sitzt ganz still und wartet. Fragt sich, ob das, was hier geschieht, wirklich geschieht, oder ob sich alles nur in dem allgemeinen Dunst auflösen wird. Zumindest erscheint es ihm äußerst zerbrechlich. Er kann etwas leicht sausen hören, einen Luftstrom, der sich herauspresst, aber er weiß nicht, ob es von einem der Teekessel kommt oder ob es sich nur in seinem Kopf befindet.
    »Vielleicht kannst du das nicht verstehen«, sagt sie nach einer Weile. »Ich betrachte nur, deshalb habe ich keine Beziehung zu irgendetwas. Nicht alle können das begreifen, das kann man auch nicht erwarten, und es spielt auch keine Rolle ...«
    Er versucht ihren Blick einzufangen. Ihn von der Teetasse zu heben, aber es gelingt ihm nicht. Er will ihr nur mit einem Blick zeigen, dass er versteht, wovon sie spricht, er kann es nur nicht rundheraus sagen. Das wäre zu neunmalklug.
    »Ich nehme an der Welt nicht teil«, fährt sie fort. »Ich betrachte sie. Ich habe mich entschieden, so zu leben, das hat seine Gründe, das ist nichts Merkwürdiges ... absolut nichts Merkwürdiges.«
    »Das kann man doch nicht machen«, unterbricht er sie.
    »Nein?«
    »Du nimmst doch trotzdem teil«, erklärt er. »Die Menschen wollen betrachtet werden, viele wollen nichts lieber als das. Es ist Einbildung, dass man sich außen vor stellen kann.«
    »Ja.« Sie legt den Plastiklöffel auf die Untertasse. Versucht aus dem Fenster zu sehen. »Alle wollen betrachtet werden, nur ich nicht ... nicht mehr. Ich schaffe das.«
    »Nicht richtig.«
    »Nein, vielleicht nicht immer und absolut.« Sie lächelt vorsichtig.
    »Aber Beerdigungen helfen dabei?«
    »Andere Ereignisse auch ... Demonstrationen, Gerichtsverhandlungen, Einweihungen ...

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