Die Fliege Und Die Ewigkeit
Frau.
Was geht hier vor?
Eilig dreht sie sich um und hastet davon. Sie verlässt den Friedhof, und Maertens steht immer noch wie paralysiert da. Steht noch am Grab, und man hält ihn immer noch. Vielleicht versucht auch jemand mit ihm zu reden, ihn zu fragen, wie es ihm geht, aber nichts davon dringt zu ihm durch. Er hört nicht einmal ihre Stimmen. Hört nur das Nachklingen des Schweigens. Wie ein Wind, der in den Ästen eines hohen Baumes festsitzt. Dann macht er sich schließlich frei, verlässt sie, läuft der Frau hinterher.
Quer über Wege und Grabsteine läuft er, denn er hat sie aus dem Blick verloren. Mit keuchendem Atem klettert er über die breite, bemooste Mauer, die den Friedhof umgibt. Landet auf allen vieren auf dem Bürgersteig dahinter. Zerkratzt sich die Hände, kann aber gerade noch sehen, wie sie ein Stück weiter auf der Straße in einen Bus steigt. Verzweifelt schaut er sich um. Entdeckt in der Dämmerung weiter hinten eine Reihe Taxis, läuft dorthin, spürt, wie sein Herz in der Brust schreit. Wirft sich in den ersten Wagen und ruft:
»Folgen Sie dem Bus!«
Für den Bruchteil einer Sekunde sieht er vor seinem inneren Auge einen bärtigen, finsteren Regisseur, dem Dämon aus der Straßenbahn nicht unähnlich, nur älter und noch müder, dazwischenspringen und rufen Schnitt! Schnitt, verdammt noch mal! Aber der Taxifahrer gehorcht umgehend. Er hat vermutlich gelernt, wie er in derartigen Situationen zu reagieren hat, denkt Maertens. Gehorchen. Lieber den Übeltätern oder Verrückten zu Diensten sein, als zu versuchen, den Helden zu spielen. Maertens findet, das ist eine ausgezeichnete Regel. Er lehnt sich zurück und sieht entschlossen aus. Trinkt einen Schluck Cognac. Trinkt zwei.
Der Bus ist schnell eingeholt. Sie heften sich an seine Fersen. Der Fahrer wirft Maertens einen fragenden Blick im Rückspiegel zu. Er ist jung und sieht etwas nervös aus, wie Maertens jetzt bemerkt.
»In Ordnung«, sagt er. »Folgen Sie ihm einfach!«
Als der Bus an einer Haltestelle anhält, tun sie es auch. Maertens kurbelt das Seitenfenster herunter, steckt den Kopf hinaus und überprüft, ob die Frau möglicherweise ausgestiegen ist. Dann fahren sie weiter.
Diese Prozedur wiederholt sich dreimal. Danach nimmt der Fahrer all seinen Mut zusammen und fragt, ob es nicht besser wäre, den Bus zu überholen, dann könnte Maertens an der nächsten Haltestelle einsteigen.
Maertens überlegt. »Dann los«, nickt er.
Sofort tritt der Fahrer aufs Gas. Sie biegen auf die Fahrbahn und beschleunigen so schnell, dass Maertens eine leichte Übelkeit verspürt. Schließlich kann er sehen, wie der Bus hinter ihnen kleiner wird und ganz verschwindet. Dann wieder ein jähes Bremsen, er schmeckt einen Dunst von Blut und Cognac, der in seinem Schlund hochschwappt, und verlässt eilig das Auto. Er bezahlt, und der junge Mann schenkt ihm ein leises, konspiratives Lächeln, bevor er davonbraust. Immerhin etwas, denkt Maertens.
Er versucht sich zu orientieren. Kreuger Allé, wenn er sich nicht täuscht. Irgendwo in der Nähe von Bernards Fahrradfabrik wahrscheinlich. Dann taucht der Bus auf. Er winkt dem Fahrer zu, der an den Straßenrand fährt und hält. Maertens steigt ganz vorn ein, wie man es in dieser Stadt so tut, und späht über die Fahrgäste hinweg. Im gleichen Moment steigt die Frau durch die Hintertür aus.
Er entdeckt es gerade noch rechtzeitig, und in letzter Sekunde gelingt es ihm abzuspringen. Da die Frau in Fahrtrichtung des Busses geht, stößt er mit ihr zusammen, er wirft sie einfach zu Boden. Ihm selbst gelingt es auch nicht, auf den Beinen zu bleiben. Beide bleiben auf dem Bürgersteig liegen.
Der Bus fährt laut Fahrplan weiter. Das alte Paar, das ebenfalls ausgestiegen ist, begibt sich hastig in die andere Richtung. Zurück bleiben Maertens und die Frau, auf der Erde liegend.
»Was hast du für eine Verbindung mit dieser Geschichte?«, fragt Maertens. Aus irgendeinem Grund fängt er an zu reden, noch bevor einer von ihnen versucht hat aufzustehen.
»Gar keine«, antwortet die Frau. »Ich habe mit nichts eine Verbindung.«
Auch sie macht keinerlei Anstalten aufzustehen. Stützt nur den Kopf in die Hand, während sie noch auf der Seite liegt. Sie trägt einen dunkelblauen Regenmantel, doch darunter ist sie hell, einen Moment lang hat er die Vision, sie wäre Istvans neue Frau. Die nordische.
Aber natürlich ist sie das nicht.
»Eine Sekunde lang hatte ich das Gefühl, als würdest du wie
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