Die Fliege Und Die Ewigkeit
erlöst.
Zunächst ist es Bernard. Nach einer außergewöhnlich schweigsamen Morgenfahrt offenbart er sich, gerade in dem Moment, als es an der Zeit ist, Maertens am Markt herauszulassen:
»Ich habe gestern Marie-Louise getroffen.«
Maertens nickt. Er kennt keine Marie-Louise.
»Fräulein Kemp.«
»Ach so ...«
»Wir haben Tee getrunken und uns über Poesie unterhalten.«
»Herzlichen Glückwunsch.«
»Eine ungemein sensible Frau.«
»Das finde ich nicht.«
Bernard zieht ein kleines, flaches Päckchen hervor.
»Könntest du ihr das hier geben? Das sind ein paar Gedichte, die ich gestern nicht finden konnte ... ungedruckte von Malling und Wan Winderleijk.«
Maertens hat noch nie von ihnen gehört. Einen Moment lang hat er den Verdacht, es könnte sich um Pseudonyme für Bernard selbst handeln, dann verwirft er die Idee aber. Es geht ihn ja auch nichts an. Als er später während der morgendlichen Kaffeepause das Päckchen überreicht, sieht er zu seiner Verwunderung, wie Fräulein Kemp errötet. Rote Knospen brechen am Hals über ihrem Kragen und auf den Wangen aus.
Bis zu diesem Augenblick hätte er das für ein Ding der Unmöglichkeit gehalten.
Bernard, denkt er. Könnte es doch so sein, wie du behauptest? Mit der Welt und allem?
Er entdeckt sie sofort, als sie durch den Eingang unterhalb der Treppe tritt. Augenblicklich versucht er sich einzureden, dass sie aus ganz üblichen Gründen in die Bibliothek kommt.
Dass nicht er derjenige ist, den sie sucht. Trotz dieser Tage des Wartens ist sein erster Impuls, sich zurückzuziehen. Er selbst findet das empörend, aber es ist nicht zu leugnen. Warum? Sollte es noch immer einen Grund für seine Beunruhigung geben? Hat er nicht gebüßt? So lange gebüßt, wie es nur möglich ist. Wovor hat er Angst?
Hat sie während der Beerdigung Zeichen von Feindseligkeit gezeigt? Natürlich nicht.
War wirklich sie es, auf die er gewartet hat? Natürlich.
Er begegnet ihrem Blick. Vielleicht zu früh, aber es reicht. Sie lächelt kurz, als Zeichen, dass ihre Absichten friedlich sind. Dann bleibt sie eine Weile an der Stirnseite des Tresens stehen, während Maertens zwei Kunden bedient. Währenddessen sehen sie einander an – nicht gleichzeitig, immer abwechselnd –, um sich einer gemeinsamen Balance von Distanz und gegenseitigem Einverständnis zu vergewissern. Es ist wichtig, dass es so ist, sonst wird alles zusammenbrechen.
Wir errichten eine Plattform, denkt er. Oder ein Floß. Nicht besonders groß und nicht besonders stabil, aber zumindest ein Platz, um nach dreißig wortlosen Jahren miteinander reden zu können. Sicher, es ist eine Präzisionsarbeit, bei der ein paar Blicke oder ein flüchtiges Lächeln oder aber ein ausbleibendes Lächeln wie Mauersteine zu betrachten sind. Das ist alles, und es ist eigentlich nichts Besonderes.
Dann ist sie an der Reihe.
»Entschuldige, Leon ...«
»Maertens.«
»Ja, natürlich, das habe ich vergessen ... du nennst dich nur so?«
»Ja.«
»Ich würde gern mit dir sprechen. Es gibt da einiges im Zusammenhang mit Tomas’ Tod ... wo du mit ins Bild kommst.«
»Wieso das?«
»Das zu erklären, braucht es ein bisschen Zeit. Ich bin mir selbst nicht einmal ganz sicher. Wenn du mit mir zu Mittag essen könntest, dann würde ich dir das alles in Ruhe erzählen, ja? Es gibt nämlich auch ein Testament.«
»Ein Testament?«
»Ja. Tomas hat ein Testament geschrieben. Du bist einer der Begünstigten, wie man das nennt ... auch wenn das etwas merkwürdig ist.«
Ein Herr im gelbbraunen Ulster macht auf sich aufmerksam, er will seine Bücher gestempelt haben. Maertens kümmert sich um ihn.
»Entschuldige mich einen Moment, Marlene ...«
Sie tritt einen Schritt zurück. Er spürt, wie eine leichte Verwunderung in ihm brennt. Scheint es nicht, als würde sie ihn um Hilfe anflehen? Er versucht sie insgeheim anzusehen. Und wirklich, sie erscheint viel zerbrechlicher, als er sie sich vorgestellt hat. Und angespannt, sehr, sehr angespannt. Als er fertig ist, tritt sie wieder an den Tresen.
»Wann hast du Mittagspause?«
»Um eins.«
»Können wir uns dann bei Sieger’s treffen?«
Er nickt und kann es nicht lassen, legt ihr für einen Moment die Hand auf den Arm, genau wie Nadja, die Betrachterin, ihre Hand vor kurzem auf seinen Arm gelegt hat. Er bereut es sofort, aber da ist es schon zu spät, er sieht einen Hauch von Erleichterung über ihr Gesicht huschen. Damit verlässt sie ihn.
Als sie
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