Die Fliege Und Die Ewigkeit
gluckst in seinem Kopf. Er hofft, dass es bald an der Zeit ist auszusteigen; vielleicht ist es das ja wirklich, das kann er nicht genau sagen. Dieser Teil der Stadt ist nicht sein Bereich, er weiß nicht, wo sich die Haltestellen befinden, aber vielleicht ist das auch nur gut so, vielleicht ist das ... er sucht nach einem Signalknopf.
»Sankt Katarina!«, ruft der Fahrer im gleichen Moment. Sicher hat er aus Maertens’ Kleidung erraten, wohin dieser auf dem Weg ist.
Er steigt aus und spannt den Regenschirm auf. Der Regen prasselt herab. Die Straßenbahn und die Frau rattern weiter. Einen kurzen Moment bleibt er im Unterstand zögernd stehen. Die Kirche liegt gleich auf der anderen Straßenseite; ein paar schwarzgekleidete Menschen suchen unter dem Torbogen Schutz. Wie Krähen. Er schaut auf die Uhr und stellt fest, dass er zu früh ist. Dass er mindestens zehn Minuten überbrücken muss, wenn er erst mit den Allerletzten kommen will. Er möchte der Unauffälligste von allen Unauffälligen sein.
Er kehrt um und geht ein Stück fort, weg von der Kirche und dem Friedhof. Im Schutz einer kahlen Ulme trinkt er ein paar Schluck Cognac. Jetzt ist sein Körper warm, aber die Hände zittern ein wenig. Dann dreht er weiter seine Runde. Als er erneut zum Kircheneingang kommt, sieht er, dass sich ziemlich viele Schwarzgekleidete im Portal drängen. Er holt tief Luft, überquert die Straße und schließt sich ihnen an.
Gerade als er ins Turmgewölbe tritt, steht sie da. Er tritt einen kleinen Schritt zur Seite und begegnet ihrem Blick. Er sieht, dass sie ihn wiedererkennt.
Er, der meinen Vater getötet hat, denkt sie sicher. Was hat der wohl auf der Beerdigung meines Mannes zu suchen?
Aber sie verzieht keine Miene.
Verrät nichts.
9
B ei der Grablegung geschieht es, und er ist in keiner Weise darauf vorbereitet.
Vermutlich ist er auch ein wenig abgestumpft, die Zeremonie in der Kirche hat über eine Stunde gedauert, und er hat es nicht gewagt, die Flasche herauszuholen. Während der letzten Rede und des Schlusspsalms hat er mit einer schweren Trägheit kämpfen müssen, hatte schon Angst, einzuschlafen.
Draußen am Grab ist es jedenfalls einfacher, sich zu konzentrieren. Der Regen hat aufgehört, ein frischer Wind vom Meer ist stattdessen aufgekommen.
Dennoch fühlt er sich fast vollständig überrumpelt, ein paar Sekunden lang beinahe wie gelähmt. Und wem wäre es nicht so gegangen?
Der Sarg mit Tomas Borgmanns sterblichen Überresten ist soeben ins Grab gesenkt worden. In einem ziemlich großen Kreis stehen alle Trauergäste rundherum. Der Pfarrer sagt noch ein paar Worte, und dann nimmt man Abschied von dem Toten. Einer nach dem anderen in stiller Reihe. Man tritt ein paar Schritte vor und stellt sich für einen Moment direkt an den Rand des Grabs. Dort ist es etwas lehmig, man muss aufpassen, nicht hineinzurutschen ... bleibt dort eine Weile mit gesenktem Kopf stehen, lässt vielleicht eine Blume auf den Sarg fallen. Dann tritt man zurück in den Kreis der Lebenden.
Alle, die am Grab stehen, führen dieses kleine Ritual aus. Immer einer nach dem anderen, ohne Hast. Ein Stück weiter gibt es noch andere Menschen. Während Maertens wartet, überlegt er, warum die nicht näher kommen. Vielleicht kannten sie den Dahingeschiedenen nicht so gut, denkt er. Vielleicht sind sie nur hergekommen, um beim Dahinscheiden eines berühmten Menschen dabei zu sein.
Dann ist er an der Reihe.
Er tritt drei Schritte vor. Senkt den Kopf und verschränkt die Hände, wie er es bei den anderen gesehen hat.
Da kommt es.
Wie Schüttelfrost. Wie eine Sturzwelle. Unten aus dem Grab wogt es herauf, über ihn hinweg. Stark, unerschütterlich und dröhnend, dieses Schweigen, das er unter tausend Schweigen erkennen würde.
Er kommt ins Wanken. Einen Moment lang wird sein Blick von der fremden, vibrierenden Stummheit verdunkelt. Er spürt, wie ihn von hinten Hände packen. Hände, die ihn aufrecht halten. Ihn daran hindern, ins Grab zu fallen.
Dann kämpft er, wird weggeschleift, nach hinten, und das Licht kehrt wieder in seine Augen zurück. Da sieht er sie.
Er sieht sie.
Unter den Menschen, die ein wenig abseits auf dem Friedhof stehen, sieht Maertens eine Frau, die wie ein Engel strahlt. Ihr brennender Blick fängt ihn in einem Lichtkegel ein, der ausschließlich zwischen ihm und ihr existiert, und das Ganze währt nur eine verschwindend kurze Sekunde.
Zuerst dieses Schweigen aus dem Grab.
Dann der Strahlenglanz dieser
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