Die Fliege Und Die Ewigkeit
die Erde. Es ist ein Tag, um im Bett zu bleiben und sich zu besinnen. Um im Haus zu bleiben, die Seele zu reinigen, Altes zu verdauen und zu Einsichten zu kommen.
Und genau das tut Maertens. Er sitzt im Pyjama und dem vierzig Jahre alten Morgenmantel da, trinkt Zimtkaffee und hört einem Hörspiel von Borelli zu. Säubert das Aquarium und liest einzelne Seiten einer Gedichtsammlung, die Bernard ihm aufgedrängt hat. Nichts bleibt an ihm haften, alle Tätigkeiten sind vage und austauschbar wie die Regentropfen draußen. Die meiste Zeit sitzt er einfach ruhig im Sessel und lässt die Gedanken sich ordnen. Das geschieht langsam und zäh an so einem Tag, alle Ideen werden durch die müde Zurückhaltung eines leichten Katers gedämpft. Das Deutliche und das, was wichtig sein könnte, wird ohne Zaudern freigelegt, muss sich nicht mit puren Dummheiten abgeben.
Ab und zu nickt er ein. Das macht nichts. In dem Stadium der sich dahinschleppenden Untätigkeit treten dennoch die Reliefs des vergangenen Tags hervor. Des ganzen Spätwinters. Es ist nicht besonders kompliziert, er weiß ja, worum es geht.
Um Tomas Borgmann.
Um das Alte.
Die amputierte Erinnerung. Immer wieder durchgekaut, verdrängt und seit so vielen Jahren über Bord geworfen. Ohne Sinn und Relevanz für sein Leben. An so einem Trübewettertag kann er ganz ruhig dasitzen und sich darüber wundern, wie so eine alte Geschichte ihren Kopf wieder hervorschieben kann.
Es bekümmert ihn nicht. Wird ihn nie wieder bekümmern, denkt er. Und jetzt kann er die Unruhe gar nicht mehr verstehen, die er vor der Begegnung mit Marlene verspürte. Endlich erkennt er, wie wenig die Ereignisse der letzten Zeit eigentlich bedeuten. Im Spiegel der Müdigkeit zeigt sich plötzlich, dass keinerlei Veränderung auf der Tagesordnung steht. Er braucht keine Angst zu haben. Im Gähnen und aus der Perspektive des schläfrigen Körpers auf die Ewigkeit hin ist sowieso alles egal. Was immer auch in den ihm noch verbleibenden zwei oder zehn oder dreißig Jahren auch passieren wird, so wird er auf jeden Fall einen großen Teil seiner Zeit genau in diesem Sessel verbringen. Oder in einem ähnlichen. Eine mit jedem Jahr ansteigende Zahl von Stunden, und er hat gegen diese Tatsache nichts einzuwenden, absolut nichts. Die zyklische Zeitauffassung und die ruhige Ordnung der Dinge ist in seinem Haus willkommen, es gibt nichts, weshalb er sich beunruhigen muss, und von dieser Position aus lässt sich alles in Ruhe betrachten. Ruhig und gewissenhaft.
Wie Tomas Borgmann.
Nach dreißig Jahren Schweigen ist es ein neues Schweigen. Warum? Dreimal am Telefon und einmal von der anderen Seite des Grabs.
Was will er? Was ist die Ursache dafür, dass er nicht reden kann? Die Stimme aus dem Grab zu erheben, kann sicher schwierig und dumm sein, das ist Maertens schon klar. Tot, beweint und das eine wie das andere, aber vorher? Was für ein Sinn ist in diesen sinnlosen Anrufen zu suchen? Was ist es, das sich im Schweigen verbirgt?
Was willst du, Tomas?
Es ist nicht schwer, zu diesem Fragezeichen zu kommen, er tut es an diesem dunkler werdenden Nachmittag immer und immer wieder. Aber eine Antwort taucht nicht auf. Dennoch gibt es sie in seinem müden Kopf, während dieser durchscheinenden Augenblicke zwischen Traum und Wachsein... ein Fragment.
Ein Splitter ... der für den Bruchteil von Sekunden an die Oberfläche tritt und blendend klar ist. So blendend, dass er die Augen bedecken muss. Er wirbelt fort, aber es hat ihn gegeben, und das ist deutlich genug. Das alles existiert nicht nur in seinem Gehirn. Es gibt auch dort draußen Erklärungen, Sachen und Dinge versickern nicht nur einfach im Sand, dieses Mal nicht. Im Guten wie im Bösen. Er muss Geduld haben.
Damit gibt er sich zufrieden. Alles wird sich zu seiner Zeit zeigen. Auch den Friedhof und die leuchtende Frau lässt er hinter sich. Nadja. Es drängt sich nicht auf, verlangt nicht, begreiflich zu sein. Die Umstände waren ja nicht gerade die besten: Bier und Cognac, die Monotonie in der Kirche, der frische Wind vom Meer her. Wer weiß schon, was in so einem Moment geschehen kann?
So vergeht dieser Sonntag. Ein paar Gedanken widmet er auch Birthe und diesem Pastor Wilmer. Außerdem steht er eine ganze Weile vor dem Spiegel im Badezimmer und betrachtet seinen blaubraunen Fleck auf der Brust. Er sieht unverändert aus, unverändert und vertraut. Er schmerzt wie üblich, wenn man ihn drückt, aber ansonsten unterscheidet er sich nicht besonders
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