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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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eine infame Konstruktion im Nachhinein. Es sind so viele Jahre vergangen, so viele Gedanken sind unter den Brücken hinweggeflossen, dennoch müssen sich die Gegebenheiten... das offene Fenster, der schlummernde, schöne Spätsommerabend, der staubige Bibliotheksfußboden ... sich für welchen Betrachter auch immer als bemerkenswert darstellen. Determination oder nicht. Es ist zumindest vollkommen unwiderlegbar, dass wir, wenn wir erst einmal das Ergebnis gesehen haben, nicht den Ursachen gegenüber blind sind, die zu ihm führten. Aber solange wir nur diese Ursachen vor Augen haben, diese haarigen Prämissen in der unendlich vielfältigen Schar möglicher Geschehnisse und Trivialitäten, wie viele von uns können dann sagen, wohin das führen kann? Wie viele sind wirklich im Besitz dieses göttlichen Rasiermessers?
    Er weiß, dass er in diesem Fall aus der Erinnerung zitiert, kann aber nicht sagen, aus wessen.
    Für Tomas – soviel steht zumindest fest – müssen mehr Türen offen gestanden haben als für ihn, bereits in diesem frühen Stadium. Sie hatten sich kaum auf den knarrenden Korbstühlen draußen auf dem Balkon niedergelassen, noch nicht einmal von dem bernsteinfarbenen Getränk in den hohen Gläsern probiert, als er zu erstarren schien ... in diesen charakteristischen gefrorenen Zustand verfiel, in dem Leon ihn im folgenden Jahr so häufig sehen würde ... Er erstarrte, bohrte den Blick in ihn und erklärte:
    »Leon Delmas ... interessant! Ich habe das bestimmte Gefühl, dass wir beide uns nicht aus reinem Zufall begegnet sind. Prost!«
     
     
    Und im gleichen Moment muss es auch gewesen sein, möglicherweise etwas früher, aber auf keinen Fall später ... dass eine der in diesem Sommer sehr spät geschlüpften »Eumenes Coarctatus« aus ihrem Abendschlummer erwachte und die verfallenen »Calendula Officinalis« in dem leidlich gepflegten Gebüsch unter genau diesem Balkon heranwuchsen, auf dem man gerade in diesem Moment dabei ist, die Essenz des Abends einzukreisen ... Geweckt durch schwache, aber sich unerbittlich wiederholende Signale des zentralen Nervensystems, dieser instinktiven, erkennenden und für alles sorgenden Schaltzentrale. Widerstrebend geweckt und von Anfang an ohne einen Funken an Interesse, geweckt von einem Duft: schwach, trügerisch, irresistent, im Großen und Ganzen nicht mehr als ein Verschwinden; eine flüchtige Süße, so verräterisch schwach, dass die Jagd nach ihrer Quelle vom ersten Moment an für jeden vernunftbegabten Menschen sich als vollkommen sinnlos erweisen muss, als eitle Mühe, was jedoch die arme Spezies jener Population nicht zu bekümmern scheint ... bedauerlicherweise. Hier wird nicht reflektiert, sondern einfach frisch ans Werk gegangen, ans triste, sinnlose, ungebührlich aussichtslose Wagnis, verdammt noch mal. Es sei denn, dass alles Teil eines größeren Plans ist, wie man vermuten mag, eingefügt in eine Art göttlicher Vorhersehung, in dem Instinkte, ein für alle Mal Instinkte, sich ganz natürlich als Teilnehmer in jedem erdenklichen Spiel erheben, unabhängig von jedem Grund und jeder Vermutung, fern einer kurzsichtigen Begründung. Allein für die gute Sache. Ihr zuliebe. Vollkommen unterbewusst, wie man sagen könnte.
    Widerstrebend macht man sich also auf den Weg. Fort von der windgeschüttelten Grundlage, die übrigens im gleichen Moment, als sie fallen gelassen wird, zu Boden sinkt, also war es vielleicht sowieso gut so ... eine Süße in der Luft? Ja, sicher, eine Spur, genau so deutlich wie ein Buchsbaum oder eine Ranunculacea an einem Junitag, aber zweifellos künstlichen Ursprungs. Künstlich gemacht, hässlich. Trotzdem macht man widerstandslos weiter. Gegen jede Vernunft determiniert und programmiert. Jede Reminiszenz an Individualität und Selbstverwirklichung aufgebend, direkt hinein in diesen schicksalsschweren, arterhaltenden Auftrag, sich zur Quelle vorzuarbeiten, dieser falschen Fährte, dieser Chimäre, dieser falschen Süße ... Man fliegt über das Balkongeländer, sondiert kurz die Lage, aber nur oberflächlich, da alles sonnenklar zu sein scheint, über jeden Zweifel erhaben, und stürzt sich dann ohne das geringste Zögern direkt aufs Ziel, die braune Flüssigkeit im Glas, im letzten, bebenden Moment noch hoffend, dass dieses hoffnungslose Handlungsmuster trotz allem eine Art von Bedeutung beinhaltet, die einem bisher verborgen geblieben ist und einem für alle Zeiten in dem eigenen verarmten Winkel der Ewigkeit

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